Familie Wang und die Razzia im „Rössli“
Ein hübscher Spruch besagt: „Die Schweizer stehen früh auf, doch sie erwachen spät“. Schauplatz Meiringen – eine verschlafene Idylle im Berner Oberland. Das leicht verlotterte Chalet-Hotel „Rössli“ mit seinen roten Fensterläden, in einer der schönsten Landschaften der Schweiz – unweit Interlaken, dem Brienzersee, und den spektakulären Reichenbachfällen, in denen Sir Arthur Conan Doyle seinen fiktiven Meisterdetektiv zu Tode kommen ließ. Doch die Idylle trügt: Denn das „Rössli“ befindet sich ausgerechnet am Rand der Flugpiste des einzigen reinen Militärflughafens der Schweiz, auf dem die Schweizer Luftwaffe in großen Kavernen ihre amerikanischen F/A-18 Kampfflugzeuge stationiert und auf deren Piste der hochgeheime Tarnkappen-Jet F-35 getestet wird, von welchen die Schweiz laut Beschluss vom Juni 2012 36 Exemplare beschaffen wird. Meiringen ist die Heimatbasis der Fliegerstaffel 11 – Vollmitglied des „Tiger“-Verbunds der Nato. Im Gegensatz zu Militärflughäfen anderswo gibt es hier jedoch keine weiträumige Sperrzone mit Stacheldraht und Wachtürmen; man kann das Rollfelld an zwei Stellen mit Traktor, Velo und Auto jederzeit (sofern kein Jet startet) ungehindert überqueren.
“Die Wangs wurden mangels Beweisen freigelassen und sind spurlos verschwunden.“
Spätestens als plötzlich im letzten Spätsommer zivile und uniformierte Polizisten vor dem „Rössli“ vorfuhren und die Wirtsleute verhafteten, platzte die geruhsame Idylle. Das chinesische Wirtepaar namens Wang – in China so selten wie bei uns Meier oder Müller – hatte das heruntergekommene „Rössli“, das 2018 für 1,2 Millionen Franken zum Kauf ausgeschrieben war, für wohlfeile 800 000 Franken gekauft, um es als Hotel und Gasthaus zu betreiben. Zuvor wollte das Eidgenössische Verteidigungsdepartement das „Rössli“ erwerben und wegen seiner heiklen Lage abreissen lassen, aber das ging nicht, weil es unter Denkmalschutz stand. Also liess man es bleiben und die Wangs zogen ein – allerdings schlossen sie entgegen ihren Zusicherungen alsbald das Restaurant samt Kegelbahn und betrieben das Hotel als Frühstückspension. Die wohl eher anspruchslosen Gäste schrieben auf „Tripadviser“ zufriedene Kommentare und die Nachbarn fanden die Wangs ausgesprochen nett. Ob sie als Hoteliers qualifiziert und tatsächlich ein Paar waren, interessierte niemanden.
Das ging fünf Jahre lang gut, bis eines schönen Tages der Nachrichtendienst des Bundes (NDB), der doch seit Jahren vor der intensiven Spionage Chinas in der Schweiz warnt, auf die obskuren Wangs im alten „Rössli“ aufmerksam wurde. Denn die Amerikaner testen ihre F-35 unter derart strengen Sicherheitsvorkehrungen, dass sie die Maschinen jeweils zur Übernachtung über die Alpen fliegen, auf den italienischen Nato-Flugplatz Aviano nördlich von Venedig. Die Wangs wurden mangels Beweisen freigelassen und sind spurlos verschwunden. Das „Rössli“ steht wieder zum Verkauf.
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).
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