Große Erwartungen

Große Erwartungen wurden bereits in das Ungeborene gesetzt. Alles würde es erreichen, wozu es die Eltern nicht geschafft hatten. Ihr Weg zum Ziel hatte nie ein Ende gefunden. Das Mädchen, das geboren wurde, war erstens nicht schön – was bei Neugeborenen nichts heiß –, es wurde aber auch nicht schöner, so sehr sich die Mutter bemühte, es zu schmücken und zu loben.
„Aber es hat doch gute Gene, denk an deine Familie“, sagte die Mutter zum Vater, „die waren doch alle überdurchschnittlich.“
„Aber nichts Besonderes“, sagte er.
Dann kam das Mädchen in die Schule, es war langsam, wozu man faul sagte, und die Eltern verloren beinahe die Geduld. Ein neuer Anlauf. Viel gelernt wurde mit dem Kind, es weinte und lief von Zuhause fort. Nicht weit. Gerade bis zur Kreuzung.
Was würde nur aus dem Kind werden, fragten sich die Eltern, abends, wenn sie bei einem Glas Wein saßen.
Da sahen sie ihr Mädchen an der Tür. Es hatte das Nachthemdchen an und fragte, kann ich nicht auch zu euch sitzen und ein Glas Wein trinken. Die Mutter nahm es auf den Schoß, der Vater nahm es auf den Schoß.
Das Glück dieser Familie war, dass sie genug Geld besaßen. Wenn nichts aus dem Kind würde, könnte es zu Hause bleiben. Vielleicht steckte ja etwas in ihm, was noch niemand bemerkt hatte. Eine Philosophin, weil, so dachten sie sich, sie sagt oft merkwürdige Sachen, und das lässt darauf schließen, dass sie eigene Ansichten hat. Man gab ihr einen Privatlehrer, der ihre Außerordentlichkeit trainieren sollte. Es wurde nichts daraus. Sie war gerade dreißig, hatte nie einen Freund gehabt und würde ewig bei den Eltern bleiben.
„Sag du bist fünfundzwanzig“, riet die Mutter, „das glaubt dir jeder, wie du aussiehst.“
Der Vater sagte: „Nach außen hin könnten wir so tun, als wäre sie mit einem exklusiven Studium beschäftigt.“
Das Kind, das kein Kind mehr war, verweigerte das Essen, weil es die Mutter zu dick fand. Einen Spezialisten konsultierten sie. Man brachte sie in eine Klink. Gerade sieben Tage blieb sie dort, dann schickte man sie heim.
Die Mutter tröstete sie und sagte: „Das sind doch alles nur Banausen. Wir finden Besseres für dich“, und sie dachte: Was wird aus ihr, wenn wir sterben?
„Abwarten“, sagte der Vater, „Wunder gibt es immer wieder.“
So beginnt auch ein Schlager und gleich stimmte er dieses Lied an und trieb seine Frau in den Wahnsinn.
Das Mädchen begann mit dem Malen, mit dem Singen, alles so halbwegs, aber nichts von Bedeutung.
„Bist du dir denn nichts wert?“, fragte die Mutter.
Die Tochter sagte: „Doch, ich bin mir etwas wert, aber ich weiß nicht wieviel.“
Monika Helfer
monika.helfer@vn.at
Monika Helfer ist Schriftstellerin und lebt in Hohenems.