Medizin wird hinterfragt

Wissen / 12.04.2013 • 10:36 Uhr
Immer mehr Patienten informieren sich, ob die eine oder andere Untersuchung und Behandlung wirklich notwendig ist. Foto: fotolia
Immer mehr Patienten informieren sich, ob die eine oder andere Untersuchung und Behandlung wirklich notwendig ist. Foto: fotolia

Seit 30 Jahren hinterfragt die Cochrane Collaboration kritisch medizinisches Wissen.

WIEN. Für jede Krankheit gibt es heutzutage eine Vielzahl von Behandlungsformen neben zig verschiedenen Untersuchungs- und Diagnoseverfahren. Doch längst verlassen sich nicht mehr alle Patienten auf das Wissen ihrer Ärzte. Man will erfahren, woraus das Produkt besteht, das einem verschrieben wurde, welche Nebenwirkungen es hat, ob es überhaupt wirksam ist. Man will sicher sein, ob die verordnete Untersuchung tatsächlich sinnvoll ist.

Umfassendes Wissen zu medizinischen Fragen für Patienten, Ärzte und Therapeuten stellt seit drei Jahrzehnten die Cochrane Collaboration zur Verfügung. 1993 in London ins Leben gerufen und nach dem schottischen Epidemiologen und Begründer der evidenzbasierten Medizin, Sir Archibald Leman Cochrane, benannt, hat sich diese Vereinigung zu einem weltweiten Netzwerk von insgesamt etwa 28.000 Wissenschaftern entwickelt. Diese haben es sich zur Aufgabe gemacht, medizinisches Wissen kritisch zu hinterfragen und mit ihrer Arbeit einen entscheidenden Beitrag zu leisten, Untersuchungsverfahren und Therapien fundiert zu bewerten, um bestmögliche Behandlungen wählen zu können. Um die Neutralität der Cochrane Collaboration und die Vermeidung von Interessenkonflikten zu gewährleisten, muss sich jedes Zentrum und jede Zweigstelle um eigene Finanzierung bemühen, die nicht aus kommerziellen Quellen stammen darf.

Die österreichische Zweigstelle der Cochrane Collaboration wurde am 14. Dezember 2010 an der Donau-Universität Krems eröffnet. Finanziert wird sie durch eine Förderung des Niederösterreichischen Gesundheits- und Sozialfonds (NÖGUS), unterstützt von der Donau-Universität Krems. Hauptaufgabe der österreichischen Cochrane Collaboration ist die methodische Betreuung von Personen, die Cochrane Reports schreiben wollen. „Wir bieten diesbezüglich Kurse an, führen aber auch selbst Arbeiten durch“, informiert Direktor Gerald Gartlehner.

Falsche positive Ergebnisse

Einen Cochrane-Report zu verfassen, sei sehr viel Arbeit und dauere etwa ein Jahr. Ein neuer Report wird Ende April publiziert: „Er zeigt, dass der Routine-Einsatz von Ultraschall bei Brustkrebsscreening nicht wissenschaftlich fundiert ist und nicht eingesetzt werden sollte, weil er sehr viele falsche positive Ergebnisse liefert.“ Eine andere Studie habe gezeigt, dass die Rate an Bluttransfusionen nach Hüftprothesen in österreichischen Spitälern zwischen 16 und 85 Prozent schwankt. „Das heißt“, sagt Gerald Gartlehner, „in manchen Spitälern bekommen 16 Prozent der Patienten Transfusionen, in anderen 85 Prozent. Beides gleichzeitig kann aber nicht richtig sein. Entweder werden manchen Patienten lebenswichtige Transfusionen vorenthalten, oder andere bekommen Transfusionen, die sie nicht brauchen, mit allen damit einhergehenden gesundheitlichen Risiken.“

Der bekannteste, derzeit am meisten gelesene Cochrane Report zeigt auf, dass regelmäßige Gesundenuntersuchungen zu keiner Verbesserung der Gesundheit führen.

Wie reagieren Pharmaindustrie und Ärztekammer auf die systematischen Übersichtsarbeiten der Cochrane Collaboration und deren öffentlich zugängliche Datenbank „Cochrane Library“? „Die Pharmaindustrie hat mittlerweile gelernt, dass an evidenzbasierter Medizin kein Weg vorbeiführt“, antwortet Gartlehner. „Cochrane
-Reports können enorme wirtschaftliche Auswirkungen auf die Industrie haben. Die österreichische Ärztekammer hat vor zwei Jahren ein Gutachten bei christlichen Moraltheologen in Auftrag gegeben, das gezeigt hat, dass evidenzbasierte Medizin unethisch ist, unter anderem deshalb, weil es die ärztliche Kunst einschränkt.“

Die Pharmaindustrie hat mittlerweile gelernt, dass an evidenzbasierter Medizin kein Weg vorbeiführt.

Gerald Gartlehner

Stichwort

Cochrane Library

Die Ergebnisse der Systematischen Übersichtsarbeiten (Cochrane Reviews) werden in der Cochrane Library online zur Verfügung gestellt. Die Cochrane Library ist grundsätzlich kostenpflichtig. Die Kurzzusammenfassungen sind jedoch kostenlos einsehbar. Jede Kurzzusammenfassung ist in zwei Versionen verfügbar: eine für professionelle Nutzer mit medizinischem Hintergrund ( „Abstracts“) und eine für Laien & Patient(inn)en („Plain Language Summaries“). Weitere Infos unter www.cochrane.at und www.thecochranelibrary.com