Wissenschafter zweifeln am Arzneimittel Tamiflu

Für unabhängige Forscher ist Tamiflu Wissenschaftsbetrug. Das Mittel halte nicht das, was es verspreche.
BASEL, WIEN. Vogelgrippe, Schweinegrippe – Virusgrippen aller Arten sollen mit Tamiflu geheilt werden. Hat es wirklich Sinn, Grippe mit dem Arzneiwirkstoff Oseltamivir zu behandeln? Wirkt dieses Medikament denn überhaupt? Diese Frage stellen sich unabhängige Wissenschafter seit Jahren. Ebenso lange schwelt ein Streit zwischen ihnen und dem Hersteller von Tamiflu, dem Schweizer Pharmakonzern Roche. Davon überzeugt, dass Tamiflu weniger wirksam ist als bisher angenommen, sind viele Forscher. Der letzte Beweis fehlt jedoch, weil Roche bislang Daten zurückgehalten hat.
Entwickelt wurde Tamiflu Anfang der 1990er-Jahre im Biotechnologie-Unternehmen Gilead Sciences in Foster City bei San Francisco von einem Forscherteam um den aus dem Bregenzerwald stammenden Wissenschafter Norbert Bischofberger. Erstmals in der Schweiz zugelassen wurde Tamiflu 1999, in den USA und Japan ein Jahr später. Wegen Zweifel am Beleg des Nutzens, den Mitglieder des Europäischen Arzneimittelausschusses hegten, wurde der Antrag auf Arzneimittelzulassung in der Europäischen Union 2000 Roche zurückgezogen. Die Zulassung in der EU erfolgte schließlich 2002. Der Ausbruch der Vogelgrippe (H5N1) in Asien 2003, über die verbreitet wurde, dass sie auf die ganze Welt überschwappen würde, brachte dem Pharmariesen ebenso einen Rekordumsatz wie die sogenannte „Schweinegrippe“ (H1N1) im Jahr 2009. Aus Angst vor einer Pandemie kauften damals zahlreiche Staaten das Mittel auf Vorrat. Insgesamt erwirtschaftete Roche mit Tamiflu seit 2002 mehr als zehn Milliarden Euro.
Tamiflu unter der Lupe
Forscher der Cochrane Collaboration – eine Vereinigung von insgesamt etwa 28.000 Wissenschaftern mit der Aufgabe, medizinisches Wissen kritisch zu hinterfragen und somit Untersuchungsverfahren und Therapien fundiert zu bewerten – hatten das Tamiflu unter die Lupe genommen. Nach der Auswertung von insgesamt 50 Studien konnten sie keine zuverlässigen Beweise für die Wirksamkeit gegen Vogelgrippeviren beim Menschen finden.
Zuvor aber hatte die Cochrane Collaboration das Mittel untersucht und als wirksam gegen Grippe beschrieben. Warum? „Die Cochrane Collaboration hat am Beginn den Fehler gemacht, sich auf die publizierten Studien zu verlassen“, erklärt der Direktor des österreichischen Zweiges der Cochrane Collaboration, Gerald Gartlehner. „Was niemand wusste war, dass Roche 60 Prozent der Patientendaten nicht publiziert hat, sondern nur jene, die den besten Behandlungserfolg zeigten.“ Der Rest sei unterschlagen worden. „Einem kritischen Arzt in Japan ist aufgefallen, dass da einiges nicht zusammenstimmt“, führt der Wissenschafter weiter aus. „Daraufhin hat Cochrane den Report neu aufgerollt und nicht publizierte Daten von der US-Gesundheitsbehörde FDA erhalten. Da zeigte sich, dass die Wirksamkeit von Tamiflu viel geringer ist und es zum Beispiel überhaupt keine Reduktion von Hospitalisierungen gibt.“ Nach wie vor fehlen laut Gartlehner über 40 Studien, „von denen nur Roche die Daten besitzt. Im Prinzip handelt es sich um Wissenschaftsbetrug.“
Ende des Streits?
Doch nun scheint es eine Wendung im Fall Tamiflu zu geben. Die Basler Zentrale des Roche-Konzerns sendete neulich eine Erklärung an das British Medical Journal, nun alle 74 klinischen Studien zum Grippemittel Tamiflu, die unter der Beteiligung der Firma Roche gelaufen sind, zugänglich machen zu wollen. Ein unabhängiges Gremium aus Experten soll Anträge auf Zugang zu Daten prüfen und genehmigen. Außerdem werde Roche die Veröffentlichung von vollständigen klinischen Studienberichten für alle von den Gesundheitsbehörden zugelassenen Medikamenten unterstützen. Wird damit der jahrelange Streit zwischen dem Pharmakonzern und der Cochrane Collaboration beigelegt? Keineswegs. Die Forscher werfen nämlich dem Konzern vor, dass die neuen Regeln lediglich eine weitere Verzögerungstaktik seien. Zudem hätten sie – laut Gerd Antes vom Deutschen Cochrane-Zentrum – weiterhin keinen Zugang zu allen Daten, sondern nur zu jenen, die von Roche an die Zulassungsbehörden eingereicht wurden.