Wien städtephysikalisch halb Gas, halb Flüssigkeit

Neue Wissenschaftsdisziplin soll helfen, den Energiebedarf in Städten zu senken.
Wien. „Wald-und-Wiesen-Physiker“ studieren Wechselwirkungen winziger Teilchen, „Städte-Physiker“ jene von Gebäuden. Mit ihren Erkenntnissen kann man den Energiebedarf von Städten senken und sie gefeiter gegen Naturkatastrophen machen, sagte der Materialforscher Franz-Josef Ulm. Wien beschreibt er – städtephysikalisch gesehen – als teils gasförmig, teils flüssig.
Durch einen Blick auf die Bostoner Skyline nach einem Tag voller physikalischer Berechnungen über Molekularstrukturen sei er mit einem Kollegen auf die Idee gekommen, materialphysikalische Modelle auf Städte anzuwenden. „Wenn man jedes Gebäude als physikalisches Teilchen ansieht, findet man rasch heraus, dass Städte ganz charakteristische ‚Material-Eigenschaften‘ haben“, sagte Ulm, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA forscht.
New York mit Glas vergleichbar
Die Struktur von New York sei zum Beispiel mit jener von Glas vergleichbar, Chicago sieht für die Städte-Physiker aus wie ein Kristall, und Wien ist von der Ferne betrachtet gasförmig, aus kurzen Distanzen erscheine es eher flüssig. Organisch gewachsene Städte wie Wien, Paris und London seien generell flüchtiger als die mehr kristallinen Reißbrettstädte.
„Bis 2050 werden 6,7 Milliarden Menschen in Städten leben, wofür jedes Jahr acht bis neun Städte in der Größe New Yorks gebaut werden müssen“, so Ulm.
Mit Kollegen habe er herausgefunden, dass die Geometrie einer Stadt etwa großen Einfluss darauf hat, wie darin Hitzeinseln entstehen, was durch die globale Erwärmung ein immer größeres Problem wird. Wenn man dies bei der Planung neuer Städte berücksichtigt, kann man sie einerseits lebenswerter machen, andererseits Energiekosten sparen, weil man dann weniger Klimaanlagen benötigt.
Ebenfalls durch den Klimawandel treten starke Stürme viel häufiger auf. Sie belasten Gebäude direkt durch einen hohen Winddruck und bringen in Küstennähe oft Wasser in die Städte. „Eine sehr geordnete kristalline Stadt wird kaum Probleme haben, das Wasser wieder loszuwerden, aber der Druck, dem ihre Gebäude in einem Sturm ausgesetzt sind, ist wesentlich höher als bei ungeordneten Städten“, so Ulm. Dort
wiederum sei das Risiko ungleich größer, dass eingedrungenes Wasser nicht abfließen kann.
„‘Urban Physics‘ lebt aber auch davon, dass man die vielen verfügbaren Daten aus den Städten in physikalische Modelle einfließen lässt“, sagte er. Zum Beispiel anhand der Gasrechnungen habe er in Cambridge (US-Bundesstaat Massachusetts) herausgefunden, dass einige wenige Gebäude überproportional zum Energieverbrauch der Stadt beitragen. Mit einigen Verbesserungen an solchen Bauwerken könne man recht einfach den Energiebedarf einer ganzen Stadt reduzieren.