Mordgifte der fünfziger Jahre

Alt und bewährt . . .
Schwarzach Jene Leute, die in Russland Kritiker des Systems mundtot machen wollen, haben eine Vorliebe für Tee. Der Regimekritiker Litwinenko starb 2006 durch eine nachgewiesene Poloniumvergiftung, das Zeug war im Tee. Das jüngste Opfer, Alexei Nawalny, trank einen Tee im Flugzeug und fiel ins Koma; er liegt in der Charité in Berlin. Diesmal deutet alles auf sogenannte Cholinesterase-Hemmer – damit hätte sich die Vergiftermannschaft zum anderen Ende des technologischen Spektrums hin bewegt: vom high-end Produkt Polonium, das man nur aus einem Atomreaktor gewinnen kann, zum beliebten Mordgift der fünfziger Jahre. Es heißt E 605 und steht für eine ganze Reihe organischer Phosphorsäureester, die als sogenannte „Pflanzenschutzmittel“ eine lange Geschichte haben. Die ersten Vertreter dieser Substanzklasse wurden schon in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts synthetisiert, E 605 selbst 1944.
Federführend war der deutsche Chemiker Gerhard Schrader – von seinem Namen stammt übrigens das „S“ in dem Kunstwort Sarin, die anderen Buchstaben von den restlichen Mitgliedern seiner Arbeitsgruppe. Man darf hier beträchtliche Eitelkeit vermuten; anders hätten sich die Herrschaften nicht verewigen können, denn Sarin ist ein Kampfstoff der zweiten Generation nach den im ersten Weltkrieg eingesetzten, Sarin wurde als Deckname verwendet. Schrader hatte mit seinem Team ursprünglich nach Insektiziden gesucht und sich dabei mit einem Vorläuferstoff selber vergiftet, er war wochenlang schwer krank.
Die Phosphorsäureester sind zu unterscheiden von den Phosphonsäureestern, dort steht „n“ statt „r“, ein Detail der Strukturformel – der Phosphor ist direkt an Kohlenstoff gebunden, bei den Phosphorsäureestern über andere Atome. Der Unterschied ist dramatisch. Die Phosphonvarianten sind deutlich giftiger. So sehr, dass sie für landwirtschaftliche Zwecke nicht in Frage kommen. Schließlich entdeckte man, dass beim Übergang von der Phosphorsäure zur Thiophosphorsäure weniger giftige Substanzen herauskamen – weniger giftig nach militärischem Kampfstoffstandard; als Mordgift erreichte das „harmlose“ E 605 nach dem Krieg traurige Berühmtheit, die Presse sprach vom „Schwiegermuttergift“. Etliche Morde und Selbstmorde gehen darauf zurück.
Dabei ist E 605 zum Vergiften gar nicht so gut geeignet, es ist wie die anderen Vertreter der Substanzklasse praktisch unlöslich in Wasser und wurde deshalb z. B. in Pudding oder Pralinen verabreicht. Nawalnys Tee passt da nicht recht ins Bild. Auch das Koma ist merkwürdig – Cholinesterasehemmer machen eher kurzen Prozess. In der Natur sind diese Phosphorverbindungen angenehmer als die Chlorbomben DDT oder Lindan – sie zerfallen relativ schnell in harmlose Substanzen, reichern sich nicht in der Nahrungskette an.