Zwei Alphabete

Wissen / 18.04.2021 • 11:00 Uhr
Zwei Alphabete
Schematische Darstellung einer Proteinkette WIKIPEDIA

Wie sich Schrift und Proteine ähneln.

schwarzach Erstaunlich, wie sehr sich Systeme aus ganz verschiedenen Bereichen der Wirklichkeit ähneln. Zum Beispiel Rechtschreibung und Biochemie. Die Proteine, die alles Leben bestimmen, bestehen aus aneinandergehängten Aminosäuren. Das sind relativ kleine Moleküle – wie ja auch die einzelnen Buchstaben von allem Geschriebenen kleine Einheiten sind. Sogar die Anzahl ist vergleichbar: Im Alphabet haben wir 26 Buchstaben, dazu noch ein paar Satzzeichen, Proteine haben nur 20 „Buchstaben“, eben 20 verschiedene Aminosäuren.

Halt, unterbrechen wir an dieser Stelle! Bis hierher umfasst der Text, den Sie eben gelesen haben, 576 Zeichen (einschließlich Leerzeichen). Das Hämoglobinmolekül hat insgesamt 574 einzelne Aminosäuren. Die meisten Proteine begnügen sich mit 100 bis 300 Aminosäuren, das Hormon Insulin, notwendig für den Zuckerstoffwechsel, besteht aus 51 Aminosäuren, zum Vergleich: der kursive Teil in diesem Satz aus 52 Buchstaben. Sehr große Proteine gibt es auch. Die längste Kette hat das Titin, ein Protein im Muskel, wichtig für die Kontraktion. Er umfasst 34.000 Aminosäuren, in unserem Buchstabenmodell entspricht das etwa zwanzig Seiten Text.

Auch Enzyme, die chemische Reaktionen im Körper ermöglichen, sind Proteine. Bekannt sind 2700, man schätzt die Gesamtzahl auf bis zu 50.000. Nehmen wir für jedes eine Länge von durchschnittlich 200 Aminosäuren an, ergäbe das, in Buchstaben umgerechnet, zehn Bücher à 500 Seiten. – Proteine werden nach dem Bauplan der Erbinformation Aminosäure für Aminosäure zusammengesetzt. Dabei gibt es ab und zu Kopierfehler, vergleichbar mit Tippfehlern bei der Schreibmaschine, an die sich die Älteren noch erinnern werden; damals mussten Schreibfehler mit Tippex mühsam ausgebessert werden, im Zeitalter von Rechtschreibprogrammen nicht mehr vorstellbar. Solche Schreibfehler kommen bei der Kopie des genetischen Codes vor und erscheinen dann in den Proteinen, die der Organismus nach diesem Code zusammenbastelt. Je öfter sich das betreffende Wesen „vervielfältigt“, desto häufiger sind Kopierfehler. Es braucht dazu nicht unbedingt einen Einfluss von außen, keinen Röntgenstrahl, kein Zellgift, sogenannte Mutationen kommen eben vor und werden ihrerseits vererbt. Die meisten sind harmlos, aber manchmal kann der Einbau einer einzigen falschen Aminosäure an einer bestimmten Stelle der Kette das Enzym unbrauchbar machen. Hier endet auch die Ähnlichkeit zwischen Protein und geschriebenem Text. Ein Druckfehler im Text ist höchstens ärgerlich, ein Kopierfehler im Protein führt unter Umständen zu einer schweren Erkrankung. Oder verhilft einem Virus zur besseren Verbreitung.

Christian Mähr

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