„Ein Bernhardiner ist kein Windhund“

Konstanzer Allgemeinmediziner räumt mit den großen Diät-Irrtümern auf.
Feldkirch. (VN-mm) Um seine übergewichtigen Patienten besser zu verstehen, hat Dr. Heinrich Everke jede Diät auch an sich selbst ausprobiert. Sehr zum Missfallen seiner Familie. Doch er habe das gebraucht, um ein Gefühl für die Betroffenen zu bekommen. Seine Erfahrungen veröffentlicht Everke nun als Buch. Am Montag hält er in der Arbeiterkammer Feldkirch einen Vortrag zum Thema, das nie alt zu werden scheint.
Warum glauben Menschen immer noch an die Wirkung von Diäten?
Everke: Die meisten Leute glauben im Innersten eigentlich gar nicht mehr so richtig an Diäten. Alle, die schon Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben, werden von Diät zu Diät skeptischer. Sie sind enttäuscht. Sie wissen aber nicht, ob sie von der Diät oder von sich selbst enttäuscht sein sollen. Sie können nicht glauben, dass es bei ihnen nicht klappt, wo doch viele andere eine Traumfigur haben. Vor allem junge Frauen glauben, dass es doch möglich sein muss, durch irgendeinen Trick, durch irgendeine kluge Maßnahme, so dünn zu werden wie Victoria Beckham. Es hat ihnen noch niemand ehrlich erklärt, wie der Körper sein Gewicht kontrolliert.
Woran liegt es, dass wir immer noch über die Zunahme übergewichtiger und fettleibiger Kinder sprechen müssen?
Everke: Das ist ein heikles Thema. Es gibt Kinder, die von Geburt an auf ein höheres Körpergewicht programmiert sind. Vor allem Kinder von übergewichtigen Eltern haben häufig diese Eigenschaft. Diese Kinder sind gesund, sie zu stigmatisieren und ihnen ihr Übergewicht vorzuhalten ist eine Gemeinheit. Daneben gibt es aber eine leider stark wachsende Zahl von Kindern, die durch falsche Ernährung regelrecht gemästet wurden. Der häufigste Fehler in der Ernährung ist bei diesen Kindern ein zu hoher Zuckerkonsum. Dazu kommt ein Mangel an Bewegung. Hier droht uns eine ähnliche Entwicklung wie wir sie in den USA schon seit zwanzig Jahren beobachten können.
Was läuft bei Diäten falsch?
Everke: Der Hauptfehler ist der Glaube, dass man abnimmt, wenn man weniger Kalorien zu sich nimmt. Das stimmt nur für den Anfang einer Diät. Nach spätestens 5 Prozent Verlust an Körpergewicht schaltet der Körper auf ein Sparprogramm, was einen weiteren Gewichtsverlust verhindert. Von jetzt an müssen Sie drastisch hungern, bis Sie schließlich aufgeben müssen. Danach holt sich der Körper das verlorene Gewicht wieder zurück. Dem Körper ist es nämlich egal, was Sie für ein Schönheitsideal haben. Er hat sein eigenes Programm. Das heißt, für viele Menschen ist es gar nicht möglich, durch eine Diät nachhaltig abzunehmen. Die sollten es besser lassen.
Welchem Personenkreis würden Sie als Arzt eine Diät empfehlen und welchem nicht?
Everke: Aus ärztlicher Sicht müssen nur Menschen mit der Dreierkombination aus dickem Bauch, hohem Blutdruck und Diabetes abnehmen. Das sind meist Folgen einer „Mästung“ durch Kohlehydrate. Ab einem Bauchumfang von einem Meter wird es kritisch. Die anderen Werte sollte man mit seinem Hausarzt klären. Idealgewichtstabelle und Body-Mass-Index sind jedenfalls unwichtig.
Ist die Beeinflussung durch die Gesellschaft, wonach die schlanke Menschen will, wirklich noch so groß?
Everke: Ich glaube schon. In unserer Gesellschaft gelten die Dicken als undiszipliniert. Je höher Sie auf der Karrieretreppe steigen, desto mehr an Disziplin wird verlangt. Und das bedeutet, Sie dürfen auf keinen Fall zu dick sein. Außerdem sind die Vorbilder in der Mode nach wie vor sehr schlank. Versuche von Modezeitschriften, das zu ändern, waren nicht sehr erfolgreich.
Wie findet ein mit seinem Körper bislang unglücklicher Mensch seinen Frieden?
Everke: Das ist manchmal tatsächlich schwer. Deswegen habe ich mein Buch geschrieben. Die Menschen sind einfach unterschiedlich. Manche können abnehmen, manchen fällt es wahnsinnig schwer. Sie können aus einem Bernhardiner keinen Windhund machen, indem sie ihn auf Diät setzen. Aber beide sind gleich wertvoll. Bei Tieren akzeptieren wir das, aber die Menschen sollen alle gleich dünn sein. Die Natur ist ungerecht und Mode ist ihr egal.
Haben Sie sich persönlich auch schon mit Diäten gequält?
Everke: Natürlich habe ich das. Am Anfang, als ich den ersten übergewichtigen Patienten helfen wollte, habe ich jede empfohlene Diät erst an mir selber ausprobiert. Ich habe meine ganze Familie damit gequält. Meine Frau nahm dabei zu, weil sie ständig ein schlechtes Gewissen hatte und ständig ans Essen dachte. Die Kinder plünderten die Keksdose. Es war keine friedliche Zeit bei uns zu Hause und sie war, was das Gewicht anging, auch nicht sehr erfolgreich. Aber ich habe das gebraucht, um ein Gefühl für meine Patienten zu bekommen. Danach habe ich viele meiner Patienten in einem ganz anderen Licht gesehen. Ich habe sie bewundert für ihre Disziplin. Ich habe viel mehr Respekt vor ihnen bekommen als vor den Dünnen, die nur glauben, ihre Schlankheit sei das Ergebnis von Disziplin und damit den Dicken ein schlechtes Gewissen einreden.
Was braucht es, um ohne Diät im Leben auszukommen?
Everke: Sie sollten Ihrem Körper vertrauen. Wenn man vernünftig isst und sich bewegt, stellt der Körper automatisch das für uns passende Gewicht ein. Je mehr Sie in die Automatik eingreifen, desto mehr Gegensteuerung bekommen Sie. Das kann sich sehr unangenehm aufschaukeln. Häufig beginnt das Übergewicht erst dann, wenn jemand mit einer Diät eigentlich dagegen angehen will. Man fühlt sich zu dick, man hungert, die Automatik steuert dagegen und am Schluss ist man dicker als je zuvor. Wenn Sie sich gemästet haben, über die Feiertage zum Beispiel, dann lassen Sie zuerst mal nur den Zucker weg. Aber Sie brauchen nicht zu hungern. In meinem Buch beschreibe ich, wie die Regulation funktioniert und wie man sinnvoll, ohne Kalorien zu zählen und ohne zu hungern, den Körper dazu überreden kann, wieder sein optimales Gewicht einzustellen.
Nach spätestens 5 Prozent Verlust an Gewicht schaltet der Körper auf ein Sparprogramm.
heinrich everke
Vortrag: Stress mit dem Abnehmen, Montag, 29. Oktober 2012, 19.30 Uhr, Arbeiterkammer Feldkirch; Buchtipp: „Bauchfrei“, Nardelli-Verlag, Preis: 20,50 Euro