Unverständnis, das belastet, und Wünsche an das Leben

Sozialpsychiatrie: Dringende Forderung nach einem aufsuchenden Krisendienst.
Dornbirn. (VN-mm) „Was fehlt uns heute?“: Es ist eine an sich profane Frage, die das Deckblatt des Jahresberichts 2013 der pro mente Vorarlberg ziert. Auch an Antworten fehlt es nicht. Nur die Umsetzung erweist sich nach wie vor als zäh. So reicht etwa der Wunsch nach einem aufsuchenden Krisendienst für psychisch kranke Menschen bis ins Jahr 2002 zurück. Dass er sich im neuen Psychiatriekonzept des Landes wieder findet, stimmt pro mente-Geschäftsführer Dr. Elmar Weiskopf zumindest zuversichtlich. Bessere Ideen brauche es zudem für die soziale und berufliche Integration. So fordert auch die Sozialpsychiatrie schon lange die Einführung eines Teilkrankenstands bzw. einer Teilpension. „In der Schweiz und in Liechtenstein funktionieren diese Maßnahmen bestens“, merkt Weiskopf an.
Wichtige Außenansichten
Der aktuelle Jahresbericht fokussiert bewusst die Herausforderungen in der Sozialpsychiatrie und lässt dazu verschiedenste Personen zu Wort kommen. „Diese Außenansichten sind für Betroffene und Angehörige gleichermaßen wichtig“, bestätigen Stefan Hagleitner und Theresia. Er ist Betroffener, sie Mutter eines psychisch kranken Sohnes. „Falsche Zuschreibungen können psychisch kranken Menschen nämlich den ganzen Lebensweg verstellen und damit jede Lebensplanung verunmöglichen“, sagt Hagleitner. Auch er musste seinen Traumberuf aufgeben. Dass ihm das AMS eine andere Ausbildung ermöglichte, dafür ist er heute noch dankbar. „Leider fehlt es den Unternehmen an Anreizen, psychisch kranke Menschen einzustellen“, bedauert Stefan Hagleitner.
Angst und Scham
Theresia erachtet es als insgesamt nötig, die Thematik vermehrt an die Öffentlichkeit zu bringen. Auch, weil die Gesellschaft immer noch dazu neigt, die Familie für die psychische Erkrankung eines Angehörigen verantwortlich zu machen. „Da muss etwas falschgelaufen sein“, sei die gängige Annahme. Theresia hat in der Selbsthilfegruppe HPE viel Stärkung erfahren. Und: „Sie nahmen mir dort meine Schuldgefühle.“ Heute leitet sie eine solche Gruppe in Rankweil. Doch das Angebot wird von Angehörigen kaum angenommen. Angst und Scham hindern viele daran, sich Unterstützung zu holen.
Zu hohe Anforderungen
Anders die Situation bei den Betroffenen. „Hier ist die Schwelle, Hilfe in Anspruch zu nehmen, deutlich niedriger geworden“, begründet Dr. Elmar Weiskopf die Zunahme an Klienten um fast 7 Prozent im vergangenen Jahr. Laut dem Facharzt für Psychiatrie sind es vor allem die hohen Anforderungen im Arbeitsumfeld, die Menschen in Krisen und depressive Störungen rutschen lassen. Das erfordere sehr viel Beratungstätigkeit. „Die schweren psychischen Erkrankungen haben nicht zugenommen“, betont Weiskopf. Auch aus seiner Sicht ist die Außenwahrnehmung von Bedeutung. Denn: „Betroffene sind nicht ständig krank. Es gibt Phasen, in denen sie eine Behandlung brauchen, doch die stellen den kleineren Teil der Zeit dar. Das gilt es zu vermitteln, weil psychisch krank sein immer noch als Schwäche ausgelegt wird.“
Ungelöstes Problem
Ein Unverständnis, das sehr belastet, wie Theresia ergänzt. Auch bei schweren Störungen sei heutzutage ein individuell gesundes Leben möglich. Aber das funktioniere nur, wenn der Betroffene mit seiner Krankheit nicht allein gelassen werde. Stefan Hagleitner erfährt im direkten Kontakt immer wieder, wie viel Verständnis trotz allem da ist. So führt der Verein omnibus, bei dem er sich engagiert, gemeinsam mit der Selbsthilfegruppe HPE und pro mente Informationsprojekte in Schulen durch. Regelmäßig sind die Betroffenen- und Angehörigenvertreter auch in der Polizeischule in Feldkirch zu Gast. Die Aufklärung zeigt Wirkung. „Im Einsatz gehen die Beamten deutlich sensibler vor“, so Hagleitner. „Dennoch ist es demütigend, wenn im Krisenfall das Polizeiauto vorfährt“, verweist Elmar Weiskopf auf das ungelöste Problem der Notfalleinweisung. Da viele niedergelassene Ärzte diese Arbeit nicht mehr machen wollen, muss häufig die Exe-kutive einschreiten. Umso wichtiger wäre ein aufsuchender Krisendienst. „Dazu müssten jedoch alle Träger ihre Kräfte bündeln und die Fachärzte eingebunden werden“, erklärt Weiskopf, warum ein Zustandekommen bislang scheiterte.
Solidarisierung nötig
Für Stefan Hagleitner wäre auch eine Entschleunigung dringend geboten. So lange es diese nicht gebe, brauche es für psychisch kranke Menschen bestmögliche Hilfe. In diesem Zusammenhang nennt er die „Psychiatrie auf Krankenschein“ sowie die Einrichtung niederschwelliger Anlaufstellen auf Gemeindeebene. Elmar Weiskopf bekräftigt: „Die Gesellschaft muss wieder mehr auf diese Menschen zugehen und Angebote zur Inklusion schaffen.“ Persönlich glaubt er, dass den psychisch Kranken die Solidarisierung der Gesellschaft mit den alten Menschen helfen kann. „Sie ist aktivierbar“, gibt sich der Psychiater optimistisch.
In Vorarlberg leiden etwa 20 bis 25 Prozent der Bevölkerung an psychischen Erkrankungen. Doch nur 4 bis 5 Prozent benötigen eine ständige Behandlung. Speziell für sie gelte es, Verständnis und kreative Lösungen zu schaffen, die ihnen eine Teilhabe am Leben ermöglichen, lautet der eindringliche Appell von Experten und Betroffenen.
Fakten und Hilfen
Bilanz 2013
» 72.830 Betreuungsstunden
» 2684 Klientinnen und Klienten
» 27,2 Durchschnittsstunden pro Klient
» 48 Arbeitstrainingsprojekte
» 68 Klientinnen und Klienten im Beschäftigungsprogramm
Anlaufstellen
» pro mente Vorarlberg: Färbergasse 15, Dornbirn, Tel. 05572/3242-0, E-Mail: office@promente-v.at, www.promente-v.at
» Beratungsstelle omnibus: Anton-Schneider-Straße 21, Bregenz, Tel. 05574/54695, www.verein-omnibus.org
» HPE Vorarlberg – Hilfe für Angehörige psychisch Erkrankter: Tel: 0664/7805085, E-Mail: hpe-vorarlberg@hpe.at