Die Sache mit dem Wunschkind

Paare warten oft lange und benötigen dann die Unterstützung der Reproduktionsmedizin.
Feldkirch Beim 4. Frauengesundheitstag im femail in Feldkirch, der als Hybridveranstaltung durchgeführt wurde, beleuchtete unter anderem Prof. Sibil Tschudin, Gynäkologin am Universitätsspital Basel und Präsidentin der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für psychosomatische Gynäkologie und Geburtshilfe, die aktuellen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin, aber auch wie Frauen und Paare optimal begleitet werden können.
Was beinhaltet die gynäkologische Sozialmedizin und Psychosomatik, und bei welchen Indikationen kommt sie zur Anwendung?
Tschudin Das Team unserer Abteilung kommt immer dann zum Einsatz, wenn sich bei einem gynäkologischen oder geburtshilflichen Problem herausstellt, dass psychosoziale Aspekte eine Rolle spielen. Das ist sehr häufig der Fall, gerade auch bei Paaren aus der Kinderwunschsprechstunde. Alle diese Paare sollen die Möglichkeit einer auch über längere Zeit andauernden psychologischen Begleitung haben, ob sie dies selbst wünschen oder wir diese Betreuung empfehlen.
Wie sieht so eine Betreuung im Rahmen der Reproduktionsmedizin aus?
Tschudin Eine Kinderwunschbehandlung kann sehr aufwendig sein, verursacht Stress und Verunsicherung. Die Paare, vor allem die Frauen, müssen viel über sich ergehen lassen. Sie spüren die Auswirkungen am eigenen Körper. Für den Umgang mit diesen Belastungen, besonders wenn eine Behandlung nicht erfolgreich ist, braucht es also Unterstützung. Gehe es um eine Samenspende, haben wir obligat eine einmalige Beratung im Angebot. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass viele Paare im Vorfeld über zu wenig Informationen, was die Besonderheit dieser Situation betrifft, verfügen, so zum Beispiel über mögliche Auswirkungen der Tatsache, dass bei einem Kind nach einer Samen- oder Eizellspende nicht beide Elternteile mit diesem Kind biologisch verwandt sind.
Welchen Stellenwert nimmt die Reproduktionsmedizin in der Schweiz ein?
Tschudin Diese Möglichkeit wird immer mehr in Anspruch genommen. Viele Paare warten lange, bis sie sich den Kinderwunsch erfüllen möchten, und sind dann damit konfrontiert, dass es auf natürlichem Weg nicht klappt. Generell, so auch in der Schweiz, sind zehn bis 15 Prozent aller Paare ungewollt kinderlos. Ihnen versucht die Reproduktionsmedizin zu helfen.
Wo sehen Sie die Chancen, wo die Herausforderungen der Reproduktionsmedizin?
Tschudin Die Chancen bestehen darin, dass vielen Paaren geholfen werden kann. Herausfordernd ist, dass ein Paar oft über einen langen Zeitraum in einer Art von medizinischer Mühle steckt. Dazu kommen die finanziellen Belastungen einer Kinderwunschbehandlung. Da gilt es, achtsam zu sein und Paare gut zu beraten. Ziehen sich die Belastungen allzu lange hin, kann dies nachhaltige Auswirkungen auf die Psyche der Betroffenen haben.
Wie wird in Zeiten, in denen fast alles möglich ist, der Begriff Wunschkind definiert?
Tschudin Es ist immer die Frage, was man sich unter einem Wunschkind vorstellt. Sich einen Zeitpunkt auszusuchen, ist nichts Schlechtes, aber einem (Designer)-Kind nach eigenen Wünschen sind zum Glück Grenzen gesetzt, wobei wir im Zusammenhang mit der Pränataldiagnostik zum Teil an diese Grenzen stoßen.
Was hilft, wenn der Kinderwunsch unerfüllt bleibt?
Tschudin Dann wäre es wichtig, das Paar weiter zu betreuen. Das wird zum Teil in den Zentren noch zu wenig angeboten. Allerdings wären da auch psychologische Hilfsangebote außerhalb von Kinderwunschzentren sinnvoll, weil es so eventuell einfacher ist, Abstand zu bekommen. Das Problem ist, dass sich Paare oft zurückziehen und in dieser Trauerphase kaum Unterstützung suchen.
Gibt es einen gesellschaftlichen Zwang für Frauen, Mutter zu werden?
Tschudin Es ist ein urtümliches Bedürfnis der meisten Menschen, sich zu reproduzieren. Trotzdem gibt es Frauen, die bewusst keine Kinder wollen. Sie bekommen zuweilen schon Reaktionen der Gesellschaft zu spüren. Auch Paare mit unerfülltem Kinderwunsch geraten häufig unter Druck, weil sie dem gesellschaftlichen und/oder familiären Anspruch nicht genügen können.
Wie stellt sich aus Ihrer Erfahrung die Reihenfolge bei Frauen dar: zuerst Karriere und dann Kinder oder doch umgekehrt?
Tschudin Ich glaube nicht, dass Frauen zuerst Karriere machen wollten, wenn die Möglichkeiten, Beruf und Mutterschaft zu vereinbaren, besser wären und die Männer ihre Verpflichtungen in der Kindererziehung stärker wahrnehmen würden. Deshalb braucht es Rahmenbedingungen, die den Frauen ermöglichen, beides zu realisieren, Kinder und Karriere.