Besser tot als einsam

Gesund / 10.09.2023 • 13:55 Uhr
Fiktion und Realität überlagern sich, eingefangene Bühnengeschichten werden zu Bühnengeschichten.  <span class="copyright">Thomas Schiretz (3)</span>
Fiktion und Realität überlagern sich, eingefangene Bühnengeschichten werden zu Bühnengeschichten. Thomas Schiretz (3)

Theater Mutante präsentierte mit dem Stück „Terrarium“ eine Premiere in der Festhalle Lochau.

Darum geht’s:

  • Theater Mutante präsentiert das Stück “Terrarium” in der Festhalle Lochau.
  • Das Stück behandelt das Thema des Älterwerdens und die Auswirkungen auf die Betroffenen.
  • Fiktion und Realität überlagern sich während der Aufführung.

Lochau Der Bühnenraum in der alten Turnhalle in Lochau erinnert an eine Probensituation. Mikrofone, Stühle, weißer Bodenbelag, drei Vasen mit Plastikblumen im Raum verteilt, zwei Bilderrahmen im Hintergrund und die Uhr im Hintergrund zeigt sechs vor zwölf.

"Terrarium" kann mit einer insgesamt guten Gesamtleistung überzeugen.
"Terrarium" kann mit einer insgesamt guten Gesamtleistung überzeugen.

Andreas Jähnert und seine Mitspielerinnen, Margit Müller-Schwab, Srour Hassan und Musiker Chris Lane betreten den Raum. Es wird um einen Pudding-Plastikbecher gestritten, den Jähnert auf dem Desk des Musikers hat stehen lassen. Müll – Wiederverwendung. Jähnert, in Zeulenroda/Thüringen geboren, mag keine Currywurst, aber in Finis terrae, am Ende der Welt, am Kap Finisterre/Spanien, da steht eine Currybude direkt am Wasser am Meer; dort würde er sich eine Curry und ein Dosenbier einverleiben, das ultimative Freiheitsgefühl. So beginnt eine Reise, denn die Erde ist ein Karussell mit einem weißen Elefanten (siehe Rilke), auf dem Jähnert sitzt, oder zusammen mit seinem Bruder in einem schicken Schlitten durch Australien fährt, in einem Flugzeug nach Chicago und San Francisco fliegt, während Opa (Herr Steiner/Chris Lane) im Pflegeheim dahinvegetiert und Oma schon gestorben ist.

Rainer Maria Rilke

Das Karussell – Jardin du Luxembourg

Mit einem Dach und seinem Schatten dreht

sich eine kleine Weile der Bestand

von bunten Pferden, alle aus dem Land,

das lange zögert, eh es untergeht.

Zwar manche sind an Wagen angespannt,

doch alle haben Mut in ihren Mienen;

ein böser roter Löwe geht mit ihnen

und dann und wann ein weißer Elefant.

Sogar ein Hirsch ist da, ganz wie im Wald,

nur dass er einen Sattel trägt und drüber

ein kleines blaues Mädchen aufgeschnallt.

Und auf dem Löwen reitet weiß ein Junge

und hält sich mit der kleinen heißen Hand

dieweil der Löwe Zähne zeigt und Zunge.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und auf den Pferden kommen sie vorüber,

auch Mädchen, helle, diesem Pferdesprunge

fast schon entwachsen; mitten in dem Schwunge

schauen sie auf, irgendwohin, herüber –.

Und dann und wann ein weißer Elefant.

Und das geht hin und eilt sich, dass es endet,

und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel.

Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbeigesendet,

ein kleines kaum begonnenes Profil –.

Und manchesmal ein Lächeln, hergewendet,

ein seliges, das blendet und verschwendet

an dieses atemlose blinde Spiel …

Fiktion und Realität überlagern sich, eingefangene Bühnengeschichten (Interviews mit Betroffenen und Experten) werden zu Bühnengeschichten, es geht um das Älterwerden und was es für die Betroffenen bedeutet. „Unterschätzen Sie nicht die Zukunft – Anlegen statt Stilllegen – Wir bringen Sie sicher durch’s Ziel.“ Das Ziel ist am Ende wohl der Tod. Aber wie sagte die Krankenschwester (Margit Müller-Schwab): „Besser einsam als tot.“ 900 Pflegeagenturen soll es in Österreich geben, sagt Jähnert, während er über Demenz, Gicht, Schlaganfall, Käpt‘n Blaubär, diverse Suizidszenarien, Heimverweigerung und last but not least das Coronavirus räsoniert. Großvater stirbt im Pflegeheim. „Nicht das Virus hat ihn umgebracht, sondern die Einsamkeit.“ (Dauerhafte Einsamkeit erhöht das Sterberisiko um 32 Prozent. Quelle: Nature Human Behaviour) Diese bittere Erfahrung mussten einige von uns während der Coronapandemie machen.

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Jähnert ist das Faktotum in diesem Stück, das er zusammen mit der Regisseurin Bernadette Heidegger konzipiert hat. Er bewegt sich wie ein Gummiball, turnt an den von der Decke hängenden Ringen (Turnsaal) verschiedene Kraftelemente, spricht dazu mit einer Leichtigkeit, verwandelt sich in eine Diva mit schwarzer Perücke und schwarzem Paillettenkleid und singt, manchmal gemeinsam mit seinen Mitspielern, auch Lieder, die er schon mit seinem Großvater gesungen hat: „Wie weit ist es bis ans Ende dieser Welt“ oder „O wie wohl ist mir am Abend“. Dann wieder Udo Jürgens „Mit 66 Jahren“, Hubert von Goiserns „Heast as nit“ (mit etwas mehr Verve hätte das eine herrliche Parodie geben können) und Vicky Leandros „Du weißt, ich liebe das Leben“.

Andreas Jähnert ist das Faktotum in diesem Stück, das er zusammen mit der Regisseurin Bernadette Heidegger konzipiert hat.
Andreas Jähnert ist das Faktotum in diesem Stück, das er zusammen mit der Regisseurin Bernadette Heidegger konzipiert hat.

Schließlich kommt er auf das Terrarium zu sprechen, das dem Stück unter anderem den Titel gab. Es war das Zuhause seiner weißen Ratte namens Flipper. Eines Tages hat sie ihn in den Finger gebissen, dass es blutete. Als er eines Tages von der Schule nach Hause kommt, ist das Terrarium leer. Sein Vater hat die Ratte im Wald ausgesetzt, wo sie mit anderen Tieren spielen kann. So schnell kann es gehen mit dem Wegwerfen, der Plastikbecher in den Müll, die weiße Ratte in den Wald, der Großvater in…Eine gute Gesamtleistung, Jähnert in bestechender Form, von Chris Lane hätte man noch gerne mehr musikalische Einsprengsel, vor allem impulsivere, gehört. Zu Beginn tönt seine Gibson ein wenig wie Neil Youngs Les Pauls im Soundtrack zu „Dead Man“. Gediegene Regiearbeit von Bernadette Heidegger. Margit Müller-Schwab und Srour Hassan sind eine ideale Ergänzung.

Terrarium

Eine Meditation über das Ende der Welt

Aufführungen: 14.09., 15.09. und 16.09.

Jeweils 20 Uhr

Festhalle Lochau (Alte Turnhalle)

www.theatermutante.com