Horror als gesellschaftlicher Seismograf

Spannende Retrospektive im Rahmen der 7. Alptraum-Horrorkurzfilmnacht
Bludenz Großflächige Spinnweben, die von der Decke hingen, sphärische Musik, rote Beleuchtung – die unheimlich anmutende Atmosphäre bot am vergangenen Samstagabend den perfekten Hintergrund für die nunmehr siebte Alptraum-Horrorkurzfilmnacht in der Remise in Bludenz. Dem zahlreich erschienenen Publikum wurde dieses Mal ein ganz besonderes Programm geboten: “Zwischen 2018 und 2024 programmierten wir aus über 1200 Einreichungen für unsere Alpinale-Alptraum-Veranstaltung insgesamt 88 Filme für unsere Horrorschiene. Und daraus wählten wir für unsere heurige Retrospektive 13 besondere Höhepunkte aus”, sagte Jürgen Schacherl, Kurator dieser erfolgreichen Veranstaltung. Die Auswahl berücksichtige jeden Geschmack: “Blut und Eingeweide. Zähneklappern. Befreites Loslachen. Klassische Filmmonster. Moderner Schrecken. Publikumslieblinge. Interne Favoriten. Insgesamt aber vor allem Filme, die anecken, die Fragen stellen, nicht nur über unser Zusammen-, sondern vor allem unser Überleben.”

Ventil zum Druckabbau
Horror werde in seiner Bedeutung oft verkannt. “Gerade heute, in einer Zeit, in der es an allen Ecken und Enden im Gebälk knirscht, in der Brandstifter zündeln und unser gesellschaftlicher Zusammenhalt zerbröselt, zeige sich wieder: Horror ist kein Eskapismus, sondern Seismograf”, erklärte Jürgen Schacherl. Horror registriere gesellschaftliche Beben und finde dafür teils groteske Bilder. Überforderung und Kontrollverlust wurden etwa in den Filmen “Tiny Thing” und “Procedure” aufgezeigt, in “Gnomes” ging es um den Kampf um Ressourcen, während in “The Tenant” Körper, die nicht mehr gehorchen, im Mittelpunkt standen. Weitere Themenfelder, die sich in den jeweiligen Filmen spiegelten, waren beispielsweise ein unsicheres Zuhause oder eine entgleitende Wissenschaft. Die Monster seien dabei Platzhalter für tief sitzende Ängste. Dennoch glimme immer wieder, typisch für dieses Genre, eine zutiefst menschliche Zuneigung zu den Außenseitern auf. Dies zeige, so Jürgen Schacherl: “Die echten Monster, das sind wir. Bei all dem wird deutlich: Horror ist auch ein Ventil zum Druckabbau. Er provoziert und konfrontiert, er zwingt zum Hinsehen, zur unmittelbaren Reaktion. Doch der Schrecken, dem wir uns aussetzen, findet trotzdem im sicheren Rahmen statt. Wir wissen: Sobald der Abspann startet, der Applaus einsetzt, das Licht im Saal angeht, ist das Grauen gebannt.”

Gesellschaftlicher Gradmesser
Man dürfe sich einen Horrorfan somit als zwar illusionslosen, aber durchaus ausgeglichenen Menschen vorstellen. Das Genre erzeuge Bilder, die gerade deshalb aushaltbar sind, weil sie zwar Grenzen von Anstand und Ästhetik oft überschreiten, aber durch ihre Stilisierung als das erkannt werden können, was sie sind: nur ein Film. “Horror ist ein Trainingsraum. In jedem Horrorfilm erproben wir Handlungsfähigkeit”, führt Jürgen Schacherl weiter aus. Auf diese Weise werden Urteilskraft, Ambiguitätstoleranz, Solidarität und Empathie als Kernkompetenzen geschärft. Und zwar nicht nur gegen Dämonen auf der Leinwand, sondern auch gegen Herausforderungen im echten Leben. Nicht zuletzt darum sei Horror in schwierigen Zeiten ein wunderbarer Gradmesser: “Horror bündelt diffuse Stimmungen, übersetzt diese in Erzählungen und gibt uns eine Sprache für das Unaussprechliche. Am Ende bleibt kein Trostversprechen, kein ‚Alles wird gut‘, sondern etwas Nützlicheres: Wir haben hingesehen. Wir halten aus. Und wir sind bereit, zu handeln”, ist Jürgen Schacherl überzeugt. BI



