Ein Industrieschloss im Auwald

Heimat / HEUTE • 11:11 Uhr
KanalvorderErhöhung1922, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Kanal vor der Erhöhung 1922. F. M. Hämmerle Archiv

Wie die Hämmerle-Spinnerei in Gisingen ein Dorf veränderte.

Feldkirch Als F. M. Hämmerle 1888 beschloss, in Gisingen eine neue Spinnerei zu errichten, war das mehr als ein weiterer Fabriksbau im boomenden Vorarlberger Textilzeitalter. Die Dornbirner Firmendynastie suchte nach einem Standort mit verlässlicher Wasserkraft – und fand ihn an der Ill, wo die Gemeinde Altenstadt wenig später ein 20-Hektar-Grundstück verkaufte. 1892 begann der Bau, 1894 produzierten die Ringspinnmaschinen das erste Garn: modern, lichtdurchflutet und leistungsstark. Bald arbeiteten rund 400 Menschen in der neuen Fabrik, die zur stärksten Spinnerei des Landes aufstieg. Das Gebäude selbst war ein Statement. Hinter der neoklassizistischen Schaufassade öffnete sich ein sachlicher Industrieorganismus aus Shedhallen, Kraftwerk, Wasserturm und Kesselhaus – entworfen von Baumeister Joseph Anton Albrich und dem Schweizer Fabriksplaner Carl-Arnold Sequin-Bronner. Die Fabrik galt mit Belüftung, hellen Sälen und einer Ausstattung als Vorzeigeprojekt.

ElektrischeKraftzentrale1923, Foto: F. M. Hämmerle Archiv
Elektrische Kraftzentrale 1923.F. M. Hämmerle Archiv

Sozialprogramm mit Kindergarten

Gisingen war kein gewachsener Industrieraum. Die Arbeiter – viele aus dem Trentino – mussten erst angesiedelt werden. Hämmerle reagierte mit einem einzigartigen Sozialprogramm: Direkt vor den Toren entstand ab 1894 eine Wohnsiedlung mit Direktorenvilla, Beamtenhäusern, Meisterwohnungen und einer “Kolonie” aus elf Arbeiterhäusern. Jede Wohnung erhielt einen Garten, es gab Waschküche, Werksküche, Spielplätze, Parkanlagen und ab 1908 einen Betriebskindergarten. Die Badeanstalt im Fabriksgebäude sorgte wöchentlich für Hygiene – ein Fortschritt, der weit über regionale Standards hinausging.

Spinnerei Gisingen 2013, Foto: Böhringer
Spinnerei Gisingen 2013.Böhringer

Eigene Werksbahn

Auch infrastrukturell setzte die Spinnerei Maßstäbe. Die verkehrstechnisch abgelegene Lage hinter dem Ardetzenberg machte den Bau der Hämmerlestraße notwendig – und einer elektrischen Werksbahn, der ersten normalspurigen E-Bahn der Donaumonarchie, die Rohbaumwolle und fertige Garne transportierte. Ein Foto aus der Zeit hat F. M. Hämmerle Holding-Archivar Dr. Dieter Petras gefunden, allerdings: “Künstler und Datierung sind unbekannt”, sagt er. Krisen, Kriege und wirtschaftliche Erschütterungen überstand der Standort recht stabil. Während des Ersten Weltkriegs wurde eine Granatendreherei einquartiert, im Zweiten Weltkrieg entstand im Auwald ein Zwangsarbeiterlager, dessen Baracken später als Wohnungen dienten. Doch die Spinnerei arbeitete weiter – bis der Druck auf die Textilindustrie im 21. Jahrhundert stärker wurde. 2016 stellte Hämmerle die Produktion ein.

RechenbodenalterZustand1922, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Rechenboden alter Zustand 1922. F. M. Hämmerle Archiv

Neues Zentrum

Seit 2024 läuft ein kooperativer Planungsprozess, der das 74.500 Quadratmeter große Areal in ein zeitgemäßes Zentrum für Wohnen, Arbeiten und Freizeit transformiert. Kraftwerk und Halle 1 stehen unter Denkmalschutz, die Spuren der industriellen Blütezeit bleiben sichtbare Bezugspunkte. Wo einst Maschinen im Takt der Ill dröhnten, entsteht ein Zukunftsraum – getragen von der langen Geschichte, die Gisingen geprägt hat. Fakten: Fläche gesamtes Hämmerle-Areal ca. 74.500 Quadratmeter, Fläche Spinnerei inkl. Freiflächen ca. 28.000 Quadratmeter, derzeitiger Verwendungszweck Lagerflächen.

Gesamtansicht Gisingen1922, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Gesamtansicht Gisingen 1922. F. M. Hämmerle Archiv
Schaufassade mit Fabriksuhr 2013, Foto: Böhringer
Schaufassade mit Fabriksuhr 2013. Böhringer
MontageGenerator1923, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Montage Generator 1923. F. M. Hämmerle Archiv
Sheddach der Fabrikshalle um 1900. Foto: Privat
Sheddach der Fabrikshalle um 1900. Privat
Direktorenbüro um 1920, Foto: Privat
Direktorenbüro um 1920. privat
Meisterhaus 1895, Foto: Privat
Meisterhaus 1895. Privat
Fabriks- und Wohnensemble der Spinnerei um 1930, Foto: Privat
Fabriks- und Wohnensemble der Spinnerei um 1930.Privat
Fabrik mit Kraftwerk und Werkskanal 1895, Foto: Privat
Fabrik mit Kraftwerk und Werkskanal 1895. Privat
Buchhaltervilla 2013, Foto: Böhringer
Buchhaltervilla 2013. Böhringer
Hämmerlesiedlung 2013, Foto: Böhringer
Hämmerlesiedlung 2013. Böhringer
Arbeiten am Überreich, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Arbeiten am Überreich. F. M. Hämmerle Archiv
Bau des Verbindungskanals 1924, Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Bau des Verbindungskanals 1924. F. M. Hämmerle Archiv
Spinnerei Gisingen mit Eisenbahnanschluss, Foto: unbekannt
Spinnerei Gisingen mit Eisenbahnanschluss.
Werk Gisingen mit „Kolonie“ Luftbild, 1950er-Jahre. Foto: F.M. Hämmerle Archiv
Werk Gisingen mit “Kolonie” Luftbild, 1950er-Jahre. F. M. Hämmerle Archiv