„Bischt au a bissl crazy?”

kontur / 28.03.2024 • 08:52 Uhr
„Bischt au a bissl crazy?”
Heute muss man sich schon in jungen Jahren ­überlegen, wie man sich in der digitalen Welt inszeniert – das ist ein Seiteneffekt vom Weltschmerz, mit dem man über die Digitalisierung in Berührung kommt.

Verrückte waren früher ­verschämt in Behandlung, heute sind sie scheinbar weit verbreitet. Crazy sein ist absolut en vogue und gleichbedeutend dem ­Statement: „Hey Leute, schaut her, ich bin nicht langweilig!“. Doch wie ­aufregend und anders ist man überhaupt noch, wenn plötzlich alle „verrückt“ sind? „kontur“ hat Trend­forscher Tristan Horx zu ­diesem ­Phänomen befragt.

Ein Blick auf Instagram offen­bart: 47 Millionen Posts, die den Hash­tag #crazy beinhalten. Zu sehen bekommt man Menschen auf Jetskis, Skate-Boards, Luxusschlitten, mit Tattoos an allen erdenklichen Körperteilen, posierend mit verschiedensten Lebensmitteln oder Tieren, singend und tanzend auf dem 10-Meter-Sprungbrett oder bei skurrilen Mutproben, wie dem Trinken aus Bidets. Verrückt ist offenbar das neue „normal“, wobei dem Ganzen eine positive Konnotation im Sinne von ausgeflippt, rebellisch und aufregend anhaftet. Jeder möchte speziell und besonders sein und präsentiert sich auf diversen Social Media Plattformen, denn das Crazy-Phänomen zeigt sich auch auf TikTok & Co. und trägt einem Zeitgeist Rechnung, in dem alle ganz besonders und individuell sein wollen.

Weltschmerz der Digitalisierung.

„Die Frage ist: Ist es der Versuch, sich in eine Mehrheitsgesellschaft einzugliedern, weil die Welt um einen herum verrückt geworden ist – sprich zeigt sich normatives Verhalten – oder sind wir bei der Generation Z, diese These vertrete ich, an der Spitze der Individualisierung angekommen? Ein Herausstechen aus der Masse durch verrückte, also von der Norm abweichende, Verhaltensweisen“, erklärt Tristan Horx und führt weiter aus: „Es ist eine Form von Selbstoptimierung, crazy zu sein, denn echte Verrückte, sprich Leute mit psychiatrischem Befund, bezeichnen das nie als solches, weil sie denken, dass sie normal sind. Man muss es sich eben auch leisten können, crazy zu sein.“

Der Begriff ist somit ambivalent:

„Der/Die ist verrückt“ kann ein Kompliment aber auch üble Nachrede sein, das lässt sich sehr gut an Liebesbeziehungen illustrieren, beispielsweise am Song von Beyonce „Crazy in Love“, dessen Inhalt frei übersetzt lautet: „Schau mich doch mal an. Ich sehe doch völlig verrückt aus und du bist schuld daran. Deine Berührungen, deine Küsse, deine Liebe haben aus mir eine Verrückte gemacht“ – hier sind wir also noch in der ­Phase „rosarote Brille“. Das Ganze kippt, wenn aus dieser verrückten Verliebtheit ­irgendwann Besessenheit wird. Stichwort: Narziss­mus – Massive Abwertungen, die den anderen in den Wahnsinn treiben, während die eigenen Eskapaden vertuscht werden und ihr/ihm am Ende psychische Probleme unterstellt werden. Der Trend zur anfangs beschriebenen gemeinschaftlichen Social Media Crazyness hat mit solchen soziopathischen Störungen allerdings wenig zu tun, sondern vielmehr mit veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedingt durch den Einfluss und die Nutzung der Medien: „Heute muss man sich schon in jungen Jahren überlegen, wie man sich als Individuum im Netz und den sozialen Medien inszeniert, stylt und individualisiert – das ist ein Seiteneffekt vom Weltschmerz, mit dem junge Menschen schon sehr früh über die Digitalisierung in Berührung kommen: Sie konsumieren heutzutage ab etwa 10 bis 12 Jahren verschiedenste Inhalte aus dem Netz und werden dadurch sehr früh mit dem konfrontiert, was die Welt an Positivem wie Negativem zu bieten hat. Durch diese Einflüsse kann man es nicht wirklich schlechtreden, dass die Jugendlichen am Ende denken, die Welt sei verrückt geworden“, so der Trendforscher, der selbst der Generation Y angehört.

„Bischt au a bissl crazy?”
Zeitgeist. Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx gehört der Generation Y an.
Fotos an ­gefährlichen Orten – für mehr Aufmerk­samkeit, Likes und Abonnements im Netz.

Welt ist einfach „Mist“.

Die Weltordnung ist also durch den medialen Blick, pointiert ausgedrückt, irgendwie „Mist“ und des­wegen suchen sich junge Leute eine bewusste Alternative zu den Werten und Normen der dominierenden, anonymen Kultur, die von Kriegen, Klimakatastrophen & Co. bestimmt wird – wie etwa durch Subkulturen. „Diese sind heute viel stärker fragmentiert: Früher gab es immer eine Mehrheits- bzw. Antisubkultur wie die Hippies oder Punks. Heute existieren unglaublich winzige Formen, die sehr oft mit „core“ enden, beispielsweise die Goblincore. Das sind Leute, die von der Ästhetik der Goblins inspiriert sind und sich wie diese Waldwesen anziehen oder die Clowncore, die sich an der Jokerwelt orientieren. Diese starke ­Zersplitterung führt dazu, dass man immer noch einen draufsetzen muss, um als Individuum wahrgenommen zu werden“. Alles bunt, laut und ein bisschen chaotisch. Übrigens der Hashtag Clowncore hat auf TikTok über 200 Millionen Aufrufe. „Die Aufmerksamkeitsökonomie belohnt crazy sein. Hinzu kommt bei den Jüngeren, dass sie in einer wichtigen Entwicklungsphase ihres Lebens – in der man normalerweise aus den familiären Hierarchien und von zu Hause ausbricht, um mit Freunden auszugehen und sich in der Gesellschaft draußen zu individualisieren – in Zeiten des Lockdowns ­lange eingesperrt waren. Dieser Umstand hat dazu geführt, dass sich durch den Wegfall dieser Entwicklungsphase ihr Verlangen nach Aufmerksamkeit noch vergrößert bzw. der Drang individueller und verrückter zu sein“, zieht der Zukunftsforscher Bilanz.

Gender-Gap.

Auf die Spitze getrieben wird das Ganze durch das Schießen von Fotos an besonders gefährlichen Orten, um möglichst viel Aufmerksamkeit, Likes und Abonnements auf Social Media einzuheimsen. Hochhäuser, gefährliche Klippen, reißende Flüsse – weltweit gibt es immer mehr Todesfälle durch sogenannte Killfies. „Das ist die Spitze des aufmerksamkeitsökonomischen Eisbergs“, bringt es Horx auf den Punkt. Apropos: warum sterben eigentlich deutlich mehr Männer durch Killfies? „Männer sind risikoaffiner, weil Mut und Risiko mit Aufmerksamkeit beim anderen Geschlecht belohnt werden – das ist evolutionär nicht so überraschend.“

Hat das Ganze vielleicht auch mit Rebellion zu tun? Bei diesem Stichwort winkt Horx ab: „Momentan ist es unglaublich schwierig aufzubegehren. Die Elterngeneration, die Boomer, finden Rebellion selbst ganz cool. Das ist das Schlimmste für die Jungen. Man kann heute eigentlich nur noch rebellieren, indem man spießig wird und sich im Dreiteiler zum Abendessen mit den Eltern setzt. Die Rebellion ist ziemlich gekappt.“ Aber auch aus diesem Umstand heraus identifiziert Tristan Horx in der Generation Z einen neuen überraschenden Gegentrend: „Die jungen Männer agieren im Vergleich zu den Frauen extrem konservativ, während diese immer liberaler werden. Diese Entwicklung beim männlichen Geschlecht ist der Versuch, normativ zu sein und sich in die Hegemonie einzuordnen. Mich würde es nicht überraschen, wenn bei den Männern z. B. auch die Risikobereitschaft wieder abnehmen würde. Frauen sind dagegen in ihrer Essenz nicht so risikobereit, weil sie es glücklicherweise auch nicht sein müssen.“ Die Geschlechter driften also auseinander – u. a. auch, weil Frauen und Männer in der digitalen Welt tendenziell in unterschiedlichen (Pop- und Sub-)Kulturen leben und sich somit mit unterschiedlichem Content versorgen. Ob dies mit der #MeToo-Bewegung zu tun hat oder der Tatsache geschuldet ist, dass Demokratie und Emanzipation global gesehen auf dem Rückzug sind (in unterschiedlichen Ländern wie Afghanistan und den USA haben Frauen und Mädchen heute teilweise weniger Rechte als ihre Mütter und Großmütter) oder Männer sich von der Gesellschaft bestraft fühlen, wenn sie sich einfach mal wie Männer verhalten, ist Gegenstand aktueller Untersuchungen. Fest steht: Wir leben trotz so mancher feministischer Lichtblicke tendenziell immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft – das ist nach all den Jahren weiblicher Emanzipation, mühevoller Protestbewegungen und furioser Anstrengungen gesellschaftspolitisch gesehen ziemlich crazy.

Text: Christiane Schöhl von Norman

Fotos: pexels/lelesfoto, pexels/Aleksey Kuprikov, Klaus Vyhnalek

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