Herrlich unaufgeregt

Die Uhrenindustrie mit ihren erlesensten Manufakturen ist fest
in Schweizer Hand? Die exklusivsten Marken? Nein! In einer
sächsischen Kleinstadt namens Glashütte in Deutschland sind
Manufaktur-Mitarbeiter(innen) mit Herzblut und Leidenschaft
darum bemüht, einzigartige Zeitmesser zu fertigen – und das
mit einer nonchalanten Unaufgeregtheit, die beeindruckt.
Während andere Marken mit pompösen PR-Events und Werbestrategien aufwarten sowie ihre Manufakturen zu Museen ausbauen, besinnt man sich bei Glashütte Original auf das, worauf es den Menschen schon immer ankam, seit sich 1845 dort die ersten Uhrmacher niederließen: die Herstellung von Uhren – und zwar von erstklassigen, versteht sich. Am Anfang jedes genialen Zeitmessers steht aber erst einmal die Idee und die nimmt in der Designabteilung ihren Anfang. Hier ist man für den visuellen Mehrwert, aber auch die kreativen Entwicklungsaspekte zuständig. Soll heißen: Neue Zeitmesser verlangen auch im Innenleben nach innovativen Komplikationen, Werken und Modifikationen. Bei Glashütte Original ist man stets darauf bedacht, den Stil des eigenen Hauses zu bewahren und dennoch zeitgemäß zu bleiben: „Die Herausforderung besteht darin, unsere Traditionen, unser Erbe zu pflegen, aber gleichzeitig zeitgenössische Elemente wie moderne Abmessungen, Proportionen, Materialien und Techniken zu integrieren“, so Roland von Keith, CEO Glashütte Original. Das symbolisiert auch das gespiegelte Doppel-G auf dem Rotor eines Automatikwerks oder der Schließe: Der linke Buchstabe richtet den Blick in die Vergangenheit, der rechte in die Zukunft.

Es hängt davon ab . . . Der Schaffensprozess beginnt teilweise ganz unprätentiös: „Die besten Ideen entstehen manchmal als Skizze auf einer Papierserviette“, erzählt von Keith mit einem Schmunzeln. Darauf folgen Diskussionen innerhalb des Teams. Immer wieder trifft man sich, bespricht Ideen, Entwürfe und Skizzen – bis man mit dem Ergebnis zufrieden ist. Das kann manchmal sehr schnell gehen, aber auch lange dauern. „In der Regel benötigen wir neun bis zwölf Monate für die Designphase eines Produkts inklusive Modell und Prototypen.“ Zuerst ist der Körper, das Volumen wichtig. Hinzu kommen das Zifferblatt mit Zeigern, Bandanstöße, Krone und schließlich das Wichtigste – das Werk. Bis all diese Details erdacht, durchdacht und festgehalten sind, kann es dauern. Bei Glashütte Original würde man eher sagen: Es hängt davon ab… und zwar von den Menschen, die dort arbeiten, denn Kreativität und echte Handwerkskunst sind ein schwer vorhersehbarer Prozess. „Manchmal hat man schnell eine Idee, manchmal zerbricht man sich wochenlang den Kopf, bis die ideale Lösung gefunden ist. Wenn man sich intensiv damit beschäftigt, ist es wirklich unglaublich, wie viele verschiedene Formen, Farben und Varianten es gibt“, unterstreicht der gelernte Uhrmacher die schier unerschöpflichen Möglichkeiten. Der neueste Coup ist der Senator Chronometer Tourbillon mit patentierter Flyback-Funktion, der eben lanciert wurde: Eine Vertikalkupplung hält beim Ziehen der Krone die Unruh an und arretiert den Tourbillonkäfig in seiner aktuellen Position. Wird die Krone auf ihre nächste Position gezogen und dort gehalten, schwingt der Tourbillonkäfig in einer geschmeidigen Bewegung aufwärts, bis der Sekundenzeiger an der Spitze des Käfigs auf der Null stehen bleibt – uhrmacherisch eine absolute Meisterleistung.

Roland von Keith. CEO Glashütte Original. (re.)
Individuelle Handschrift.
Von der ersten Idee bis zum Finish sind zahlreiche Köpfe und Hände an der Entstehung der mechanischen Werke beteiligt. Der Gang durch die Manufaktur ist beeindruckend, denn er offenbart die Leidenschaft, mit der die Menschen die verschiedenen Arbeitsschritte verrichten. „Es hängt davon ab…“, ist also nicht nur ein geflügeltes Wort, sondern zeigt, dass dort Männer und Frauen mit Akribie und ruhiger Hand Schönheit und Perfektion aufbieten, um winzigste Komponenten sowie Dekorteile von Hand zu fertigen und zu verzieren – wie lange das dauert, hängt eben auch von der persönlichen Tagesform ab. So werden kleinste Messingelemente etwa nicht ausgestanzt, sondern filigran und genaustens mittels elektrischer Impulse mit einem feinen Draht herausgeschnitten (sogenannte Drahterosion). Danach durchlaufen die Kloben, Schrauben und Schwanenhalsfedern verschiedenste Abteilungen wie Galvanik, Härterei, Verzahnerei, Politur, Dekoration etc. und finden schließlich in der finalen Montage unter dem fachkundigen Augenpaar von einem Uhrmacher(in) ihren richtigen Platz im Werk. „Diese individuelle Handschrift von jedem einzelnen unserer Mitarbeiter(innen) machen die Zeitmesser zu einem Unikat und somit zu einem Original“, unterstreicht Roland von Keith und führt weiter aus: „Es ist unsere DNA, nahezu alle Komponenten im eigenen Haus zu produzieren. Diese hohe Wertschöpfung gewährleistet die volle Kontrolle über ein hohes Qualitätsniveau und verleiht uns Flexibilität. Gerade die Covid-Pandemie hat gezeigt, wie schnell Lieferketten unterbrochen werden und wie wichtig es ist, möglichst unabhängig zu agieren. Wir sind stolz, dass wir nicht nur unsere Spezialwerkzeuge, sondern nahezu alle Komponenten selbst konstruieren und produzieren. Neben dem technischen Aspekt ist es auch Teil unserer Markenidentität, Zeitmesser auf authentische Weise herzustellen – von der ersten Skizze bis zum Finish ist alles von unseren Mitarbeitern.“
So trägt jede Uhr die unsichtbare Handschrift der Menschen, die im Großen oder Kleinen an ihrer Herstellung beteiligt waren, so dass diese dort mit Fug und Recht stolz darauf sein können, dass sie in dem malerischen Örtchen mit den grünen Hügeln und schnuckeligen Giebelhäuschen, im Osten des Erzgebirges, spektakuläre Zeitmesser fertigen, die sich mit den besten dieser Welt messen können – alles ganz ohne großes Tamtam, sondern herrlich unaufgeregt, den Blick auf das Wesentliche fokussiert.
Text: Christiane Schöhl von Norman
Fotos: Roderick Aichinger, Glashütte Original