Zweite Kassa bitte

Kennen Sie den Canaletto-Blick oder wissen, warum es unter dem Stephansplatz manchmal unangenehm riecht? Zehn unkonventionelle „Insider-Facts“, die so garantiert in keinem Reiseführer der Welt stehen.
Lebenswerteste Stadt der Welt (der britische Economist reihte Wien im letzten Jahr in punkto Lebensqualität wieder auf den ersten Platz), Tiergarten Schönbrunn ältester Zoo der Welt, innerstädtisches Weinbaugebiet (mit über 600 Hektar besitzt Wien die größte Weinanbaufläche sämtlicher Hauptstädte der Welt) oder Hochquellenwasserleitung aus der Kaiserzeit – diese Schlagworte finden sich in zahlreichen Publikationen. „kontur“ hat versucht, die Seele von „Wean“ mit einem Augenzwinkern in seiner vollen Tiefe zu erfassen.
#1. Uhrzeit.
„Viertel Fünf“ – Die Wiener haben ihre eigene Zeitrechnung und die ist für „Zuagraste“ am Anfang verwirrend, denn es stellt sich die Frage: ist damit 16.45 Uhr gemeint oder 16.15 Uhr? Überlegt man genauer, macht es dann doch Sinn: Ein Viertel der fünften Stunde, sprich 16.15 Uhr oder Viertel Fünf.
#2. „G‘spritzter“.
Das Nationalgetränk der Wiener ist der „G´spritzte“, ein Gemisch von Weißwein mit Mineral- oder Sodawasser im Verhältnis 1:1. Für hohe Temperaturen und den ganz großen Durst gibt es noch den Sommerspritzer, bei dem sich das Mischverhältnis auf 1:2 ändert. Politisch geprägt ist das „Gesöff“ spätestens seit dem vielzitierten Sager des ehemaligen Wiener Bürgermeisters Michael Häupl, der literarisch ironisch fabulierte: „Man bringe den Spritzwein“. Es gibt auch ausgefallene Kreationen wie etwa den Kaiserspritzer mit einem Schuss Hollunder-Sirup.
#3. Essen nach Mitternacht.
Hungrig und durstig muss auch zu später Stunde in Wien niemand nach Hause gehen: Zahlreiche Restaurants, Lokale und Würstelstände haben bis in die frühen Morgenstunden geöffnet wie etwa das Café Europa (Zollergasse, 7. Bezirk) oder das In-Lokal Motto, das zum 50jährigen Jubiläum Anfang 2023 in Thell umbenannt wurde (Schönbrunner Straße, 5. Bezirk). Selbstredend, dass es dort auch nach Mitternacht noch etwas zu essen gibt.
#4. Gemütlichkeit.
Stichwort: Kaffeehaus – in Wien eine Institution, vor allem weil zu jeder Getränkevariation der braunen Bohne immer ganz selbstverständlich ein Glas Leitungswasser serviert wird und es vollkommen in Ordnung ist, wenn man so lange sitzen bleibt, wie man möchte, um Zeitung zu lesen, über die Welt zu sinnieren oder soziale Kontakte zu pflegen. Manch alteingesessener Wiener würde einschränkend hinzufügen: Der Verbleib über einen längeren Zeitraum ist gestattet, solange die Oberhoheit der Kellner akzeptiert wird.
#5. Zweite Kassa.
Diese vielbeschworene Gelassenheit findet im Supermarkt ein jähes Ende – und zwar, wenn aus der Warteschlange ein lautes, nachdrückliches „Zweite Kassa“ ertönt, das einen zusammenzucken lässt! In anderen Breitengraden völlig undenkbar, ist diese forsche Forderung in der ostösterreichischen DNA tief verwurzelt. Tipp: Obst unbedingt vorher abwiegen, um aggressive „Kassa“-Schreie zu vermeiden.

Verboten. Dieser Wirt kommuniziert klar seine Regeln. (re.)
#6. Grant versus Charme.
Das besondere an Wien sind seine Bewohner: ihr Charme, ihr Grant, begleitet von einem melodischen Dialekt. Die Bandbreite umfasst dabei das gesamte Spektrum an Gefühlsregungen – von „Oida, des is leiwand“ bis „Gusch, du Oasch“. Es ist eine Zwiespältigkeit: Einerseits die lebenswerteste und gleichzeitig die unfreundlichste Stadt der Welt (siehe Expat-City-Ranking 2022), d. h. im Klartext: zum Leben ist es schön, nur freundlich sind die Bewohner eben halt nicht immer. So kann man schon mal auf Parksheriffs treffen, die wegen Falschparkens zwar keinen Strafzettel ausstellen, sondern einen mit dem rustikalen Hinweis „Fahr‘ dein Dreckskarrn da weg, du Oaschloch!“ zur schnellen Platzräumung auffordern. Tipp: Einfach auf sich wirken lassen und im Falle der Fälle mit Humor nehmen.
#7. 13 A.
Das öffentliche Verkehrsnetz ist bestens ausgebaut und doch muss an dieser Stelle die Autobuslinie 13 A erwähnt werden, die den Hauptbahnhof mit der Alserstraße/Skodagasse verbindet. Da sie mehrere Bezirke (vom 10. über den 4. bis 9. Bezirk) durchkreuzt, ist sie eine der meistfrequentierten und notorisch überfüllten Wiener Öffi-Linien. Der Umstieg auf größere Gelenkbusse vor einigen Jahre schaffte eine gewisse Abhilfe, dennoch ist in Stoßzeiten bis heute das panikartige „Steigen Sie aus?“ zu hören, um einer anderen Person schon Minuten vor dem Erreichen der gewünschten Ausstiegsstelle mitzuteilen, dass man große Angst hat, nicht zur offenen Tür zu kommen. Falls man den Ausstieg tatsächlich verpasst, wird das „tröstend“ mit folgenden Worten quittiert: „A Spaziergang is eh g‘sund.“
#8. Windiger Winter.
Wer in Wien lebt, weiß, wie der Wind weht: er fegt wild und furios durch die Gassen! Während er an der einen Stelle noch gemächlich durch die eine Straße kriecht, erschreckt er einen – bedingt durch die jeweilige Richtung, aus der er bläst – beim Abbiegen um eine Hausecke plötzlich mit seinem unerbittlich nass-kalten Griff, der einem die Ohren einfrieren lässt. Einheimische und Touristen sind so in der kalten Jahreszeit teilweise ganz leicht durch ihre Kopfbedeckung beziehungsweise durch deren Fehlen sowie an frostig roten Gesichtern und Ohren zu erkennen. Für dieses Phänomen gibt es eine eigene Begrifflichkeit: den Wind-Chill-Faktor. Laut dieser Kennzahl fühlen sich zum Beispiel 0 Grad Außentemperatur bei 20 km/h Windgeschwindigkeit an wie minus 6 Grad. Im weltweiten Vergleich ist Wien eine windige Großstadt. Statistisch gesehen gibt es nur an wenigen Tagen im Jahr Flaute. Tipp: Mütze auf, sich eine sturmfeste Frisur oder viel Haarspray zulegen und auf das Positive fokussieren. Wegen des Windes herrscht eine für Großstädte ganz gute Luftqualität. Der Teint bleibt somit frisch.
#9. U-Bahn-Station Stephansplatz.
Auf den Bahnsteigen der U1/Station Stephansplatz dringt Wartenden manchmal ein unangenehmer Geruch in die Nase. Der Grund: Beim Bau der Station wurde ein Verfestigungsmittel auf organischer Basis in den Boden gespritzt. So sollte verhindert werden, dass der Boden nachgibt und der Stephansdom sich senkt. Diese Materialien dringen nun mit dem Grundwasser kleinweise durch den Tunnel ein und riechen nach Erbrochenem. Tipp: Möglichst lange die Luft anhalten oder alternativ durch den Mund atmen.
#10. Hochhäuser.
Die hohen Türme erhitzen seit Jahren die Gemüter: Vor allem Bewohner ärgern sich, weil die Sicht versperrt und die Sonne weg ist oder die Bauten einfach nur „schiach“ sind und das Stadtbild verschandeln. Dennoch wird seit den 90er-Jahren munter in die Höhe gebaut wie etwa beim Millennium Tower am Handelskai, der eigentlich nur 140 Meter hoch werden sollte. Bei seiner Fertigstellung im Jahr 1999 maß er mit Antenne 202 Meter. Kurzerhand wurde der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan im Nachhinein angepasst – wohl eine prägende Erfahrung für die Stadtpolitik, denn in der Folgezeit blieben die städtebaulichen Leitlinien vage und wurden bei Bedarf angeglichen wie etwa beim DC Tower 1. Auch hier war die Höhe von 220 Metern nicht ganz so vorgesehen. Das Hochhausprojekt am Heumarkt mit einer geplanten Bauhöhe von 66 Metern katapultierte das historische Zentrum schließlich auf die Rote Liste der bedrohten UNESCO-Weltkulturerbestätten. „Canaletto-Blick reloaded“: sprich Bernardo Bellottos berühmtes Gemälde, seit Jahrhunderten eine Art Aushängeschild für die Stadt, das den Blick von Schloss Bellvedere in Richtung Innenstadt auf Stephansdom und Kuppelkirchen richtet, visuell beeinträchtig durch Hochhäuser? – eine Vorstellung, die alteingesessenen Wienern die Zornesröte ins Gesicht treibt.
Das Original-Canaletto-Bild ist übrigens im Kunsthistorischen Museum in Wien zu bestaunen – ohne Hochhäuser. Fazit: #We love Vienna, Oida! Bussi, Baba!
Text: Christiane Schöhl von Norman
Fotos: WienTourismus/Paul Bauer, Christiane Schöhl von Norman