“Man muss sich einmal vorstellen, was Flucht bedeutet”

Kultur / 21.10.2016 • 18:27 Uhr
Autor Rudolf Stumberger hält nichts von Abschottungspolitik.
Autor Rudolf Stumberger hält nichts von Abschottungspolitik.

Stumberger schrieb ein Nachschlagewerk zum besseren Verständnis von Flüchtlingen.

München. Wer sind sie? Was unterscheidet sie von uns? Was bedeutet das für uns? Der deutsche Autor und Journalist Rudolf Stumberger ging in seinem Buch „Flüchtlinge verstehen“ dieser Frage nach. Herausgekommen ist ein Nachschlagewerk über Herkunftsländer, Kultur und Wünsche der Schutzsuchenden. Im VN-Interview erklärt er, welche Schlüsse in der aktuellen Diskussion richtig sind und welche falsch.

Es wird gerne zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen unterschieden. Ist der Unterschied so einfach?

Stumberger: Ich glaube nicht. Ausschlaggebend sind die Lebensbedingungen. Wenn sich diese derartig verschlechtern, dass jemand nicht mehr bleiben will, hat das zwar eine ökonomische Dimension. Der Hauptfluchtgrund liegt aber in den bürgerkriegsähnlichen Zuständen.

Ostafrikanische Staaten wie Äthiopien, Somalia oder Eritrea gelten als klassische Herkunftsländer für Wirtschaftsflüchtlinge. Stimmt das?

Stumberger: Nein. Somalia ist ein zerfallener Staat, da herrschen Warlords, Banden und Clans. Ein Großteil der Flüchtlinge stammt aus einem riesigen Lager in Kenia mit über 500.000 Flüchtlingen. Aus Somalia direkt fliehen weniger.

Und Eritrea?

Stumberger: Dort ist die Situation komplizierter. Die Vereinten Nationen gehen davon aus, dass die Unterdrückung sehr massiv ist. Eritrea bestreitet das natürlich. Zudem gibt es eine dänische Kommission, die davon ausgeht, dass viele Fluchtgründe gar nicht vorliegen.

Wie wichtig ist die Unterscheidung, woher ein Flüchtling kommt?

Stumberger: Sie haben einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund. Zum Beispiel was die Rolle der Frau betrifft, aber auch in Bezug auf Umgangsformen und Erwartungen. Man muss die Geschichte des Landes und die Kultur verstehen, um die Flüchtlinge verstehen zu können. Das ist auch für die Behörden und uns alle wichtig, damit wir wissen, wie wir mit ihnen umgehen sollen.

In Österreich wurde eine Höchstgrenze von 37.500 Asylanträgen beschlossen. Hält das Menschen ab?

Stumberger: Das macht keinen Sinn, sondern verschiebt das Problem nur in andere Länder.

Der politische Diskurs dreht sich derzeit um die Frage, wie man Flüchtlinge am besten abhalten kann.

Stumberger: Am meisten Sinn macht es, die Fluchtursachen zu beseitigen, damit Leib und Leben nicht mehr gefährdet sind. Da sind sich auch alle Politiker einig.

Dies gilt als Push-Faktor. Wir hören auch immer wieder von sogenannten Pull-Faktoren. In Österreich etwa bei der Frage, ob ein Asylwerber 2,5 oder fünf Euro für gemeinnützige Tätigkeiten bekommen darf.

Stumberger: Auch die bayrische CSU verfolgt die Politik, den Aufenthalt so unangenehm wie möglich zu gestalten. Das ist unmenschlich und bringt nichts. Flüchtlinge lassen sich nicht von der Flucht abhalten, weil der Stundenlohn niedrig ist. Fluchtursachen sind derart massiv und existenziell, dass der Lohn keine Rolle spielt.

Ist es nicht so, dass sich Menschen in Afghanistan denken, sie kommen nach Österreich, weil sie hier fünf Euro pro Stunde erhalten?

Stumberger: Man muss sich einmal vorstellen, was eine Flucht bedeutet. Ich war in Idomeni, bevor das Lager aufgelöst wurde. Da waren Familien mit Kindern, die schon wochenlang auf der Flucht waren. Und gar nicht daran zu denken, was Menschen riskieren, wenn sie in Booten übers Mittelmeer fahren. Sie riskieren ihr Leben. Wenn man diesen Einsatz mit fünf Euro vergleicht, steht das in keiner Relation.

Spielen Sozialleistungen eine Rolle?

Stumberger: Menschen kommen hierher, weil sie sich erhoffen, dass sie menschlich behandelt werden. Und dazu gehören gewisse Sozialleistungen, um ein einigermaßen vernünftiges Leben führen zu können. Das gehört dazu. In dem Moment, wenn man sagt, wir geben Flüchtlingen eine Zuflucht, müssen entsprechende Bedingungen geschaffen werden.

"Man muss sich einmal vorstellen, was Flucht bedeutet"

Zur Person

Rudolf Stumberger,

Autor, Journalist und Gesellschaftswissenschaftler, promovierter Soziologe

Geboren: 1956 in München

Bisher veröffentlicht (Auswahl): Das kommunistische Amerika, Hartz IV, Das Projekt Utopia

Rudolf Stumberger: „Flüchtlinge verstehen“, Riva, 240 Seiten. 15,50 Euro bei „Das Buch“