Vom Wert des einzelnen Menschen
Filipenko versteht es, ein vieldiskutiertes Thema zu beleben, Nagelschmidt legt nach.
Romane Der Gulag steht stellvertretend für die sowjetische Diktatur und die Schreckensherrschaft unter Stalin. „Der Archipel Gulag“ ist das literarische Standardwerk aus dieser Zeit. Verfasst wurde es vom Schriftsteller und Systemkritiker Alexander Issajewitsch Solschenizyn, der dafür unter anderem mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde. Bis heute kann und soll man nicht ruhig über dieses Thema reden und schreiben. Der weißrussische Autor Sasha Filipenko schrieb mit „Rote Kreuze“ einen Roman über die Zeit in Russland, in dem die Überlieferung einer Lebensgeschichte das zentrale Element ist. Eine klassische Geschichte: Ein junger Mann, Alexander, zieht heutzutage nach Moskau. Schon am Tag seines Umzugs wird er von der Greisin Tatjana Alexejewna Belaja, seiner neuen Nachbarin, in ein Gespräch verwickelt und auf einen Tee zu ihr eingeladen. Die vornehme Dame leidet zwar an Alzheimer, kann sich aber doch sehr gut an die Geschehnisse in ihrer Jugend und dem jungen Erwachsensein erinnern. Kern der Geschichte ist, dass die Frau im Außenministerium arbeitet, und jeden Tag Angst hat, in ein Lager gesteckt zu werden, da sie ihren in Kriegsgefangenschaft geratenen Mann versucht zu schützen.
Reife Leistung
Inhaftierungen, der Gang in die gefürchteten Lager und die Schilderung vieler Schicksale begleiten den Roman. Aufzeichnungen des Roten Kreuzes aus dieser Zeit dienen als wertvolle und glaubhafte Quelle und wurden in den Roman integriert. Das Werk hat eine jugendlich erquickende Schreibweise, das ist kein Widerspruch zum ernsten Thema, sondern hängt eben eng mit der beschriebenen Jugend und Aufbruchsstimmung zusammen. Eine wirklich reife Leistung von Sasha Filipenko. Einmal mehr wird gezeigt, dass in Russland das System König und das Individuum nichts wert ist.
Zur Nachtschicht eingeteilt
In letzter Zeit vollkommen berechtigt wieder ins Visier gekommen ist das Thema „Arbeit“. Ausgerechnet diesem widmet sich der deutsche Musiker und Autor Thorsten Nagelschmidt. In einer Art nächtlicher Tour begleitet er durch halb Berlin Menschen, die von Jobs leben, die die Metropole zur vorgerückten Stunde am Leben halten. Taxifahrer, Spätiverkäufer, Türsteher, Fahrradboten, Sanitäter und vor allem die Arbeitskräfte werden hier erstklassig beschrieben und natürlich auch diejenigen, für die sie jobben.
Das Arbeitsleben mischt der Autor mit Schicksalen der Protagonisten, die Sanitäterin hat zur vorgerückten Stunde einen Nebenjob in einem Nachtlokal, der Taxifahrer gibt eine verloren gegangene Geldbörse zurück. Wohl selten wurde die Interaktion in einem Videospiel literarischer beschrieben als in diesem Buch. Dazu verknüpft er die Geschichten wie Raymond Carver zu einem Ganzen. Man soll nicht mit dem ganz großen Vergleich kommen, aber neben Döblins „Alexanderplatz“ ist Berlin eine literarische Reise wert. Und nicht zu vergessen ist, dass das Thema Arbeit von zentraler Bedeutung sein wird.