Die Pestalozzi-Pädagogin als Rankweiler Wirtin

Viele Bregenzerwälder Familien hatten Verbindungen in die Welt hinaus. So auch die Bauernfamilie Schmid aus Au-Rehmen. Ein Vetter von Frau Schmid hatte sich wie andere junge Wälder als Bauhandwerker in der Westschweiz niedergelassen. Der kinderlose Maurermeister nahm deshalb eines der zwölf Schmid-Kinder zu sich auf. Um den Buben Josef Schmid auf seinen künftigen Beruf als Baumeister vorzubereiten, schickte er ihn in das angesehene Institut von Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) im bernischen Burgdorf. Dort blieb Josef Schmid, wurde statt Baumeister Mathematiklehrer, Schulbuchautor sowie treuer Anhänger und enger Mitarbeiter seines Meisters. Auch den Umzug des Instituts ins westschweizerische Yverdon hatte Schmid mitorganisiert.
Als Pestalozzi 1818 eine Armenschule gründete, mit der er zeigen wollte, dass er nicht nur Kinder aus guten Häusern zu anständigen und nützlichen Bürgern erziehen könne, rief Josef Schmid seine Schwester Maria (geb. 8. 10. 1794) nach Yverdon. Diese hatte sich als sehr intelligent und bildungsbeflissen erwiesen. In den wenigen Besuchswochen des Bruders bei der Familie in Au hatte Maria so gut Französisch gelernt, dass sie ab 1815 in wohlhabenden Dornbirner Familien den Kindern privaten Französischunterricht erteilen konnte. Anschließend unterrichtete Maria Schmid in der neu gegründeten Hauptschule in Bregenz. 1818 bat sie um Entlassung, um mit ihrem Bruder zu Pestalozzi nach Yverdon am Neuenburgersee zu gehen. Das Kreisamt beschied, dass man die Lehrerin nicht hindern wolle, „die vor ihr liegende erhabene Laufbahn zu verfolgen“.
Am „Hofe“ des berühmten Reformpädagogen konnte Maria Schmid ihr pädagogisches, sprachliches und organisatorisches Talent entfalten. Schon nach einem Jahr ernannte Pestalozzi die junge Wälderin zur Leiterin seiner Armenschule in Clindy bei Yverdon, die anfänglich 30 Kindern unterschiedlichen Alters Aufnahme bot. Einen Brief der Bregenzer Schulkinder, in dem diese die Lehrerin Schmid um Rückkehr nach Bregenz baten, beantwortete Pestalozzi persönlich. Er unterrichtete die Kinder in ganz liebenswürdigem Ton, dass er die Bitte verstehen könne, aber auch die Kinder in der Schule von Yverdon könnten die „Jungfer Schmid“ nicht mehr missen. „Glaubet doch nicht“, schrieb Pestalozzi den Bregenzer Mädchen, „dass sie aus Unzufriedenheit mit euch von euch weggezogen. Sie weint allemal, wenn sie an euch denkt oder von euch redet. Auch Bregenz war ihr lieb.“ Aber die armen Kinder in seiner Anstalt würden sie noch dringender brauchen.
Ein Kaufmann aus St. Gallen, dessen Kinder in Yverdon zur Schule gingen, hielt in einem Brief fest: „Ich sah und kenne viele tüchtige Frauenzimmer, aber so schnell, und so ununterbrochen zweckmäßig, alles sehend, berichtigend und so geschickt weiß ich keine.“ Frau Schmid sei ein „ausgezeichnetes Genie“, könne alles unterrichten, auch die englische Sprache, die sie in einem halben Jahr erlernt habe.
1819 verliebte sich die Schulleiterin in den Studenten Stefan L. Roth (1796–1849) aus Hermannstadt in Siebenbürgen. Dieser war als Praktikant aus Tübingen nach Yverdon gekommen und von der tüchtigen Lehrerin fachlich und menschlich tief beeindruckt. Es war eine romantische Liebe, wie die ganze Stimmung um Pestalozzi schwärmerisch war. „Diese Zeilen bringen Dir Grüße und Küsse“, schrieb Roth während seiner Heimreise, „wünsche wohl lieber, Dir sie selbst auf deine Lippen zu drücken, anstatt diesem leblosen Papier sie anzuvertrauen.“ In der Woche darauf versicherte er der Angebeteten, dass die geschriebenen Küsse „gültige Wechsel“ seien, „die am frohen Tage unseres Wiedersehens alle zahlbar sind“. Als der Geliebte aber nach Rückkehr in seine Heimat in einigen Briefen mitteilte, dass er immer noch nicht den richtigen Moment gefunden habe, seinem Vater, einem strengen protestantischen Pastor, zu gestehen, dass er Maria Schmid, eine Katholikin, heiraten wolle, handelte die Wälderin pragmatisch. Sie kündigte die Verlobung auf. Sie hätte bemerkt, schrieb später der Roth-Biograf, dass sie an der Seite dieses starken Mannes, nur „Speerträgerin oder gar nur Samariterin“ sein könnte. Für Schmid war aber eher seine Schwäche gegenüber seinem Vater ausschlaggebend. Dass Roth dereinst ein Großer werden sollte, war zu diesem Zeitpunkt keineswegs absehbar. Erst drei Jahrzehnte später wuchs er zum Nationalhelden Siebenbürgens heran. Als Erzieher und Schriftsteller kämpfte er an vorderster Front gegen die Magyarisierung der deutschen Minderheit in Siebenbürgen und wurde 1849 als Anführer der aufständischen Siebenbürger Sachsen von den Ungarn hingerichtet. Deshalb wurde später unter anderen persönlichen Dokumenten auch der Briefwechsel zwischen Stefan Roth und Maria Schmid veröffentlicht.
Da Mitte der 1820er-Jahre unter seinen Jüngern ein massiver Streit um die Leitung von Pestalozzis Institut entbrannte, in dem auch Josef Schmid heftig mitmischte, verließ Maria Schmid die Schweiz. Als erzieherische und haushälterische Hilfe hatte Maria Schmid 1819 ihre jüngere Schwester Katharina in die Westschweiz nachkommen lassen. Von Roth wurde sie als „unsere Schutzpatronin“ bezeichnet, weil sie den Verliebten zu unbeobachteten Stunden verholfen hatte. Katharina Schmid heiratete später Pestalozzis einzigen Enkel Gottlieb. Der Sohn aus dieser Ehe, Karl Pestalozzi (1825–1891), hielt sich mehrfach bei seiner Tante Maria in Vorarlberg auf, weil er als Professor für Kanal- und Wasserbau am Eidgenössischen Polytechnikum Zürich in die Planungen zur Rheinregulierung eingebunden war. Er wurde später auch der Alleinerbe seiner kinderlosen Tante und bedachte aus diesem Fundus einige Rankweiler Vereine mit Spenden.
Wo die Lehrerin Maria Schmid die folgenden zehn Jahre zugebracht hat, ist nicht bekannt. Sie wolle endlich auch einmal ordentlich Geld verdienen, schrieb sie ihrem Bruder nach ihrem Abschied von Yverdon. Vermutlich hat sie einige Zeit bei diesem in Paris verbracht. Ihr Neffe bemerkte jedenfalls nach ihrem Tod, sie sei Sprachlehrerin in Bregenz und Paris gewesen. Auch anlässlich ihrer Heirat im April 1834 in ihrem Wälder Heimatort mit dem Krumbacher Johann Raidel (1794–1853) wird sie als Lehrerin bezeichnet. Die Neuvermählten seien noch „am nämlichen Tage nach Weiler i. Allgäu abgereist“, heißt es im Auer Trauungsbuch. Vielleicht war sie dort zuletzt tätig gewesen.
Kurz nach der Vermählung erwarb und führte das Ehepaar das Gasthaus Krone in Brederis. Nun gab die vormalige Pädagogin Maria Raidel-Schmid eine umsichtige und resolute Wirtin. Gegen eine Anschuldigung des Rankweiler Pfarrers, bei ihr würden zwielichtige Personen verkehren, wusste sie sich selbstbewusst zur Wehr zu setzen. „Wenn Sie meine Wirtschaft als eine für die Jugend verderbliche schildern“, schrieb sie dem Pfarrer, „sind Sie nicht gut berichtet. Das, was Sie behaupten, entbehrt der Wahrheit. Ich halte streng auf Zucht und Ordnung. Wenn Euer Hochwürden wüssten, was alles über Sie und Ihre Wirtschaft hier gesprochen wird, so hätten Sie meine Wirtschaft nicht ehrenrührig getadelt. Ich aber habe diesen Gesprächen und Verleumdungen über Sie kein Gehör gegeben, sie nicht geglaubt und Sie stets in Schutz genommen. Wollen Sie daher, ich bitte Sie als Nachbarin, das Gleiche tun.“ Eine derartig scharfe Replik, noch dazu von einer Frau, war ein Pfarrherr nicht gewohnt.
Auch der Bregenzer Kreishauptmann Ebner zeigte sich von der wortgewaltigen und selbstbewussten Wirtin beeindruckt. Anlässlich einer Vorsprache des Ehepaars Raidel notierte Ebner am 28. Mai 1836 in seinem Tagebuch: „Frau Raidel kann ihre Angelegenheiten vortrefflich vortragen; ihr Mann hat den Vortrag ganz ihr überlassen, er wird schon erfahren haben, dass er ihr gebührt.“
Als Johann Raidel 1844 in eine Affäre wegen Holzdiebstahls verwickelt war, übernahm seine Gattin die Verteidigung vor dem Feldkircher Bezirksgericht. Um Holznutzung ging es auch nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1853. Die Wirtin besaß nämlich auch in Koblach ein Haus, aus dessen Besitz sie ein Einforstungsrecht, das heißt die Mitnutzung des kommunalen Waldes, in jener Gemeinde geltend machte. Zu Lebzeiten ihres Mannes war dieses Recht unbestritten, der Witwe wollten die Koblacher den Holznutzen verwehren. Sie sei Steuerzahlerin in Koblach, argumentierte Raidel, deshalb stehe ihr ein öffentliches Holzdeputat zu. Schließlich entschied aber auch die Oberbehörde gegen die Kronen-Wirtin. Nur Gemeindebürgern stehe das Holzrecht zu.
1856 verkaufte die Witwe Maria Schmid-Raidel ihre Gastwirtschaft, behielt aber ihren Wohnsitz bei den neuen Wirtsleuten bis zu ihrem Ableben am 14. Jänner 1864. Mit ihrem Tod ging ein außergewöhnliches und bewegtes Frauenleben zu Ende: Sie war ein hochbegabtes Fremdsprachentalent, eine ausnehmend kompetente Lehrerin und eine durchsetzungskräftige Wirtin, kurz: eine außergewöhnliche und selbstbewusste Zeitgenossin. Sie hat in der großen Welt und im kleinen Brederis ihre Frau gestellt. Und Geld verdient hat sie schließlich auch noch. Sie hinterließ ein erhebliches Erbe.

Clindy am Neuenburgersee mit Blick auf Yverdon.
