Menschen in Ausnahmesituationen

Spiegel unseres Schmerzes
Pierre Lemaitre
Klett-Cotta
480 Seiten
Ein Meisterwerk ironischer Erzählkunst von Pierre Lemaitre.
Roman Bevor die deutschen Truppen im Juni 1940 in Paris einmarschierten, passierten in der französischen Hauptstadt seltsame Dinge. Zum Beispiel vernichtete die Banque de France ihren Geldschatz. Müllmänner packten säckeweise Tausend-Francs-Scheine zusammen und verbrannten sie anschließend. “Ein einziger Tausend-Francs-Schein entsprach ungefähr einem Monatsgehalt”, stellt der Mobilgardist Fernand konsterniert fest. Die historisch dokumentierte Aktion gehört zu den vielen Skurrilitäten, mit denen Pierre Lemaitre seinen Roman “Spiegel unseres Schmerzes” würzt.
Die beiden Soldaten Gabriel und Raoul versuchen jeder auf seine Art mit der grassierenden Langeweile zu Beginn des Krieges fertig zu werden. Gabriel, im zivilen Leben Mathematiklehrer, sieht sein Heil in einer Beförderung, die ihn aus dem unterirdischen Rattenloch der Bunkeranlage befreit. Der Filou und Lebenskünstler Raoul verlegt sich auf einträgliche Schmuggelgeschäfte. Als die Deutschen schließlich doch noch kommen, gelingt den beiden die Flucht. Auf ihrem Weg kreuz und quer durchs Land werden sie zu einer Schicksalsgemeinschaft.
Gesellschaftsporträt
Mit “Spiegel unseres Schmerzes” schließt Lemaitre seine Trilogie “Die Kinder der Katastrophe” ab, sein großes Gesellschaftsporträt Frankreichs über die Zwischenkriegszeit. Der erste Band “Wir sehen uns da oben” war ein Sensationserfolg und wurde mit dem Prix Goncourt, ausgezeichnet. Darin erzählt Lemaitre anhand zweier bester Freunde von den Gezeichneten und Versehrten des Ersten Weltkriegs. Um Bankenexzesse und Skandale geht es in dem mittleren Band “Die Farben des Feuers”. Sein neuer Roman ist die Chronik eines Zusammenbruchs, erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven, die er am Ende kunstvoll zusammenführt. Das Schicksal der Zivilisten symbolisiert die Lehrerin Louise. Ein fatales Ereignis erschüttert ihr Leben in den Grundfesten und zwingt sie dazu, sich mit ihrer tragisch verworrenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Am Ende findet sie sich im unendlichen Strom der Flüchtlinge aus Paris wieder.
Sein Meisterwerk ironischer Erzählkunst gelingt Lemaitre allerdings mit der schillernden Figur des Désiré Migaud. Der Hochstapler hat sich in seinem Leben schon viele Rollen angemaßt, so die eines Arztes oder Rechtsanwalts. Doch zu absoluter Hochform läuft er als Propaganda-Stratege der Pariser Regierung auf, der das Debakel der französischen Armee mit wohlklingenden Wortgirlanden und kunstvollen Erfindungen kaschiert. Bei so jemanden scheint denn auch alles denkbar: “Manche Historiker sind überzeugt, dass Désiré am 26. August 1944 neben Charles de Gaulle auf den Champs-Élysées marschiert, das ist durchaus möglich (das Foto ist jedoch sehr verschwommen).”