Attraktives Spiel um einen Kontrollverlust

„Der zweite Jakob“
Norbert Gstrein,
Carl Hanser,
448 Seiten
Ein Schauspieler wird zum Protagonisten seiner Lebensbeichte.
Roman Norbert Gstrein ist ein Advokat des genau Hinsehens und darin erst recht nicht deutlich Erkennens. Klare Konturen für Fragen der Moral, der Identität oder der Ehrlichkeit interessieren ihn nicht. Und so bleibt „Der zweite Jakob“, benannt nach seinem eigenbrötlerischen Onkel und trotz seiner Erfolge gefühlt eben immer nur der zweite, auch nach 445 Seiten seiner Lebenserinnerungen ein fremder Autobiograf. Einer, dessen Promi-Lack zwar schnell Risse bekommt, der dennoch wenig Sympathien gewinnt: Zu schnell entpuppen sich scheinbare Selbstzweifel als dünn getarnte Selbstgefälligkeit.
Er ist der große Fisch im kleinen Teich: ein Schauspieler, der in US-Filmen mitgewirkt, seinen Lebensmittelpunkt aber in Innsbruck belassen hat, eine lokale Größe, dessen Abschätzigkeit für das Lokale zu seiner Marke gehört. Die kaum erwachsene Tochter, sein Ein und Alles und in ihrer überbordenden Verletzlichkeit zugleich eine andauernde Quelle von Sorge, zwingt ihn wieder und wieder, mit sich ins Gericht zu gehen. Mal unfreiwillig, durch ihre Neigung zur Selbstverletzung, mal ganz direkt: rund um die Entstehung seiner verhassten Biografie fragt sie ihn nach dem Schlimmsten, das er je getan hat. Die Erinnerungen an einen Filmdreh in den USA, bei dem Gewalt und Ausbeutung von Frauen an der US-mexikanischen Grenze in verschiedener Weise über die Ränder der Leinwand ins echte Leben getreten sind, suchen Jakob nach Jahrzehnten heim. Immer wieder hat Jakob Frauenmörder gespielt, immer wieder sieht er sich genötigt, dem Echo dieser Rollen zu entfliehen.
Nestbeschmutzen
Das Spiel mit Selbst- und Fremdwahrnehmung ist umso attraktiver, je mehr Jakob darin die Kontrolle verliert. Die Kreise, die Jakob um sich selbst dreht, werden zunehmend enger, die Ehrungen, die sich zu seinem runden Geburtstag anbahnen, versprechen, zur Groteske zu werden. Abseits des geschickt konstruierten Spiegelkabinetts legt Gstrein, selbst ein in Hamburg lebender Tiroler, aber auch einige Themen der Zeit auf den Verhandlungstisch – allerdings ohne über Allgemeinplätze hinauszukommen: Machismo in unterschiedlichsten Ausprägungen, sei es von mexikanischen Bandenbossen, von Schürzenjägern in der Midlife Crisis oder von wohlmeinenden Vätern. Sei es das Gezänke mit dem politischen Mainstream. Und nicht zuletzt: das traditionsreiche Nestbeschmutzen, diesmal in den Tiroler Bergen.