Die sangesfreudige Wirtin

Das Rankweiler Ehepaar Franziska Ammann und Michael Loacker hatte fünf Kinder, die alle an verschiedenen Orten zur Welt kamen. Loacker war nämlich Gendarmeriebeamter, der an verschiedenen Dienstposten in Südtirol eingesetzt war, ehe er zum Bezirkssekretär bei der BH Feldkirch aufstieg. Seine Frau Franziska stammte aus einem bekannten Rankweiler Haus; ihr Vater Jakob Ammann war Wirt, Kommunalpolitiker und als Chorregent Jahrzehnte lang Mittelpunkt des örtlichen Musiklebens. Die jüngste Tochter des Ehepaares kam am 25. Juni 1882 in Tisis zur Welt und wurde auf den Namen Wilhelmine Theresia, später als Mina gerufen, getauft. Bald darauf zog die Familie Loacker in das Rankweiler Elternhaus von Frau Loacker-Ammann und übernahm auch die Bewirtschaftung des Gasthauses „Schützen“. Der Name des Gasthauses stand in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Lage neben dem Schießstand und seinem wichtigsten Publikum, den Schützen. Der Wirt als Mitbegründer des Oberländer Schützenbundes und Initiator des Feldkircher Veteranenvereins tat alles, um die soldatische Tradition mit der geschäftlichen Gegenwart seines Hauses zu verlinken. Auch fungierte der pensionierte Bezirkssekretär als Obmann der Vorarlberger Wirtevereinigung mit damals 1060 Mitgliedern und vertrat diese Berufsgruppe in der Handelskammer. Die Arbeit in Küche, Gastzimmer und Garten besorgten seine Gattin Franziska und seine Tochter Mina. Sie waren die guten Geister hinter dem populären Wirt, die den alltäglichen Betrieb am Laufen hielten.
Die ältere Tochter hatte einen Beamten in Dornbirn geheiratet, Sohn Albert war Elektrotechniker und errichtete um 1900 in Schwarzach eines der ersten Kraftwerke Vorarlbergs; Sohn Arnold war Kaufmann und der dritte Sohn namens August hatte Jus studiert und arbeitete als Schriftleiter einer deutschsprachigen Zeitung in Böhmen. Sein Fall erregte 1907 überregionales Aufsehen, weil er als Leutnant der Reserve ein gefordertes Duell aus katholischer Überzeugung verweigerte und deshalb von einem militärischen Ehrengericht degradiert wurde. Ein Landtagsabgeordneter, der sich durch einen Artikel Loackers beleidigt fühlte, war in die Redaktionsräume eingedrungen und hatte den Redakteur geohrfeigt. Doch anstatt Satisfaktion zu verlangen, zeigte Loacker den Täter bei der Polizei an. Das war im Rahmen des damaligen Ehrenkodex für Offiziere der falsche Weg und verweist auf eine der abstrusen Facetten jener k.k. Militärführung, die wenige Jahre später in der selbst herbeigewünschten kriegerischen Bewährungsprobe so desatrös scheiterte. Für den Krieg aber wollte man auf den Redakteur, dem man den Offiziersrang abgesprochen hatte, nicht verzichten. 1915 wurde der Feldwebel August Loacker mit einer Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet.
Bis zum Tod des Vaters im Jahr 1907 war Mina Loacker die Seele des Wirtshauses: umsichtig und tüchtig bei der Arbeit, beliebt bei den Gästen und unterhaltsam. Von ihrem Großvater hatte sie das musikalische Talent geerbt. Sie spielte Klavier und galt als begabte und deshalb oft engagierte Sängerin. Auf Damenkränzchen und Festveranstaltungen weitum war ihr musikalischer Kunstvortrag gefragt. Ihre immer wieder gewünschten Glanznummern waren die Lieder „Frühlingsglaube“ von Franz Schubert und „Die Sonne scheint nicht mehr so schön“ von Johannes Brahms. Die beiden so unterschiedlichen Lieder zeigen den breiten Stimmungsbogen von heiter bis melancholisch, den Mina Loacker mit ihrer Gesangskunst spannen konnte. Sie selbst war „eine frohe, für alles Schöne begeisterte Frau“, wie sie ein ehemaliger Mitschüler charakterisierte.
Nach dem Tod des Vaters übernahmen ihr Bruder Arnold Loacker und dessen schwäbische Gattin den „Schützen“. Nach kurzer Zeit der versuchten Zusammenarbeit wich Mina Loacker mit ihrer Mutter von Haus und Hof. Als 1909 der Rankweiler Gasthof „Bären“ zur Verpachtung ausgeschrieben war, übernahm sie diesen. Von nun ab war die Wirtstochter bis an ihr frühes Lebensende selbständige Wirtin. Neben den praktischen Erfahrungen im Elternhaus hatte sie sich durch Teilnahme an gastronomischen Kursen, die von der Wirtevereinigung angeboten wurden, ständig weitergebildet. So machte sie auch den „Bären“, der durch vorausgegangene Besitzer- und Pächterwechsel gelitten hatte, wieder zu einem gern besuchten Gasthaus mit Gästezimmern.
Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 änderte sich das Leben der meisten Menschen auf unterschiedliche Art. Die Gastronomie war durch das Ausbleiben fremder Gäste, durch die Abwesenheit zahlreicher einheimischer Männer und den zunehmenden Mangel an Getränken und Lebensmitteln besonders negativ betroffen. Im gesamten Wirtschafts- und Arbeitsleben hatten nun die Frauen Aufgaben und öffentliche Funktionen zu übernehmen, von denen sie in Friedenszeiten ferngehalten worden waren. In spöttischem Ton und mit dem sarkastischen Ausruf „Heil ihr Männer“ berichtete eine Tageszeitung, dass Mina Loacker 1917 zur Rankweiler Wirteobfrau gewählt worden sei, obwohl von den 25 Wirten der Gemeinde noch acht zu Hause seien. Die Bärenwirtin verwaltete die private und öffentliche Mangelwirtschaft mit Umsicht, trotzdem hatte sie nach Kriegsende ihre Schuldigkeit getan. Nach der kriegsbedingten Aufwertung der Frauen wurden diese nach der Rückkehr der Männer schnellstens wieder in ihre traditionellen Rollen zurückverwiesen.
Mit dem Ende des Krieges endete die Ära der Loacker-Wirte und -Wirtinnen in Rankweil. Die brutale Kriegsrealität hatte die romantische Schützenherrlichkeit demaskiert. Der Schießstand samt dem Gasthaus „Schützen“ war zu einem Relikt der Vergangenheit geworden. Der Stromerzeugung aber gehörte die Zukunft. Deshalb verkaufte Arnold Loacker den Rankweiler „Schützen“, zog mit Familie nach Lauterach und war den Rest seines Lebens in der Firma seines Bruders Albert beschäftigt.
Wilhelmine Loacker hatte während des Krieges den aus Altlengbach im Wienerwald stammenden Oberleutnant und vormaligen Bankkaufmann Franz Plöderl kennen und lieben gelernt. Dieser war als Kriegsheld mit dem höchsten Orden dekoriert worden, hatte aber sein Heldentum mit einer dauernden Invalidität bezahlt. Als nicht mehr fronttauglich wurde er nach seiner Genesung der Feldkircher Zensurbehörde dienstzugeteilt. Hier in Feldkirch heiratete das gleichaltrige Paar im Sommer 1918. Nach dem Krieg fand Franz Plöderl Beschäftigung bei einer Bregenzer Bank, ehe er 1923 im Zuge der österreichweiten Schrumpfung der Geldinstitute abgebaut wurde. Von nun an versuchte er, sich als freier Buchhalter und als gerichtlicher Konkursverwalter den Lebensunterhalt zu verdienen.
1921 gab Mina Loacker-Plöderl den „Bären“ auf und zog mit ihrer Mutter und ihrem kurz zuvor geborenen Sohn Egon nach Bregenz. Als ihr Mann arbeitslos wurde, pachtete sie das Gasthaus „Zum Walsertal“ am oberen Bregenzer Thalbach. Das „Walsertal“ war ein ehrwürdiges Haus, das Generationen von Bregenzer Familien als sonntägliches Ausflugslokal diente und über eine stattliche Kegelbahn verfügte. Geld war an dieser entlegenen Stätte kaum zu verdienen, zumal die wirtschaftlich angespannten Zeiten nur wenigen ein Familienvergnügen erlaubten, das Geld kostete.
Neben ihrer Auslastung als Wirtin, Hausfrau und Mutter pflegte sie bis zu deren Tod im Jahr 1930 ihre Mutter; und um die Familienfinanzen aufzubessern vermittelte sie jungen Frauen Arbeitsstellen in Schweizer Haushalten. Bald wurde die Wirtin auch in Bregenz wieder zur Schützenmutter; nicht mehr der Standschützen, sondern der ehemaligen Kaiserschützen. Gatte Franz Plöderl wirkte ab 1927 im Vorstand dieses Traditionsvereins, der seine Sitzungen und Versammlungen, großzügig bewirtet von der Frau Oberleutnant, im „Walsertal“ abhielt. Auch in Bregenzer Frauenrunden war die liebenswerte Frau und sangesfreudige Wirtin bald ein gern gesehener Gast.
Doch das Familienglück und die neue wirtschaftliche und gesellschaftliche Etablierung waren nur von kurzer Dauer. Mina Plöderl geb. Loacker verstarb am 12. Jänner 1932. Sie sei, so heißt es in der Todesanzeige, „nach kurzem, schweren Leiden im 50. Lebensjahr gottergeben verschieden“. In mehreren Nachrufen wurde ihre Persönlichkeit gewürdigt, einer endete mit dem wunderschönen und vielsagenden Bild, sie habe „ihre lebhaft sprechenden Augen und ihren sangesfrohen Mund allzu früh geschlossen“.
Ein finanzieller Erfolg war ihrem Mühen und Sorgen nicht beschieden. Die Versteigerung ihres Nachlasses deckte die Passiva nicht. Zu den versteigerten Objekten zählte auch ihr geliebtes Klavier. Die Stadt Bregenz aber profitierte vom Zuzug der Rankweilerin, deren Sohn in Bregenz aufgewachsen war, in Wien studierte und nach dem Zweiten Weltkrieg im italienischen Genua eine Importfirma für österreichische und deutsche Produkte gründete. Dr. Egon Plörl vermachte der Landeshauptstadt im Jahr 2000 ein Million Schilling als Beitrag zum Bau eines Altersheims.

