Der Mahler-Zyklus ist vollendet – und wie!

Kultur / 03.10.2021 • 19:54 Uhr
Die 96-köpfige Besetzung beim Symphonieorchester Vorarlberg hat wie üblich Kirill Petrenko selbst bestimmt. sov/mathis
Die 96-köpfige Besetzung beim Symphonieorchester Vorarlberg hat wie üblich Kirill Petrenko selbst bestimmt. sov/mathis

Kirill Petrenko machte gemeinsam mit dem SOV die Neunte zum grandiosen Klangereignis.

BREGENZ Das scheinbar endlose Warten und Hoffen hat sich gelohnt. Gustav Mahlers neunte Symphonie wurde am Samstag im ausverkauften Festspielhaus zum grandiosen Klangereignis und zugleich zum Glanz- und Höhepunkt des Zyklus „Mahler 9×9“. Ein letztes Mal in dieser Reihe schlug Weltklasse-Dirigent Kirill Petrenko mit seinem unbeschreiblichen Charisma, seiner Klangdisposition, der peniblen Genauigkeit in allen Details Musiker und Zuhörer in seinen Bann. Das Symphonieorchester Vorarlberg aber wuchs ein weiteres Mal über sich hinaus. Beide haben nach einer langen gemeinsamen Wegstrecke damit zu einem Abend von einsamer Größe gefunden, der minutenlange Begeisterung mit Standing Ovations für alle Beteiligten auslöste.

Dabei ist Mahlers Neunte ja eigentlich kein Werk, das von vornherein nach Jubel verlangt. Es liegt vielmehr etwas wie ein ganz besonderer Zauber über dieser ganz nach innen gewandten Symphonie, mit der nach der opulenten Achten ein völlig neues Kapitel in diesem Zyklus aufgeschlagen wurde, eine Zeit der Entspannung, der Einkehr, der Ruhe. Es ist das ideale Werk des großen, langen Abschiednehmens, auch der Vollendung in einem philosophischen, aber auch religiösen Sinn. Alles andere als ein Requiem natürlich, und dennoch hat kaum jemand die Einsicht in die letzten Dinge, das Scheiden von dieser Welt emotionaler und berührender in Musik zu setzen gewusst als eben Gustav Mahler in den 80 Minuten seiner Neunten. Diese Verinnerlichung entspricht durchaus dem Energiefluss des Komponisten, der sein symphonisches Schaffen immer wieder mit neuen Erfahrungen anreicherte und am Schluss alles als Summe seiner Erkenntnisse zielgerichtet in der Neunten verarbeitete.

Genialer Gestalter

Gute 100 Jahre später ist Kirill Petrenko diesen Spuren gefolgt, hat sich intensiv mit Mahlers Gedanken- und Geisteswelt, dessen Programmen und Kompositionstechnik auseinandergesetzt und ließ nun ebenfalls ein Summary daraus in dieser Neunten aufleuchten. Auf dem Weg dorthin disponiert Petrenko sein Orchester in vielfältiger Weise, nachdem sich im Pianissimo des Kopfsatzes erst einmal die penetranten Huster beruhigt haben. Zwischen schwerfälligen Ländlermelodien, die eigentlich als Totentanz gemeint sind, und der kontrapunktisch turbulenten Burleske, die ihre bizarre Schönheit in einem für die Musiker waghalsigen Tempo entfaltet, steht der Dirigent wie ein Fels in der Brandung. Ein genialer Gestalter, der das Werk genau ausdifferenziert in seinen dynamischen Schattierungen, einer fast entrückten Klangdramaturgie. Petrenko lässt auch keinen Zweifel daran, dass es sich dabei um ein Werk des 20. Jahrhunderts handelt: Die in die neue Zeit weisenden Dissonanzen Mahlers treffen den Zuhörer hier in ihrer ganzen Schärfe. Niemand sonst versteht mit einem Orchester solch blitzendes Stahlgewitter, solche Prachtklänge, aber auch diese Momente der Stille zu erzeugen wie etwa der kammermusikalische Abgesang vom Leben im berührend verhaltenen Finale.

Die große, blendende 96-köpfige Besetzung beim SOV hat wie üblich Petrenko selbst bestimmt, teils noch mit Leuten aus seinen Seilschaften vom Studium am Konservatorium. Am Konzertmeisterpult unangefochten Hans-Peter Hofmann, dem einige wunderbare Soli zugedacht sind, neben ihm assistiert der derzeitige Konzertmeister Pawel Zalejski, der als Hasardstück am Nachmittag noch mit seinem „Apollon Musagète Quartett“ bei der Schubertiade Hohenems auftrat. Ein goldgetönter Streicherwald mit einer Intensität zum Bersten, kecke Holzbläser, prachtvoll satte Blechchoräle, warme Hornstellen, knalliges Schlagzeug und Pauken münden in eine vollkommen durchgeistigte Interpretation, die als exzellente Orchester-Performance mit zahlreichen brillanten Soli von jedem einzelnen Pult aktiv mitgetragen wird. Und wie stets, niemand weiß genau warum, klingt das SOV unter Petrenko anders als sonst. Man möchte dem Abend gern das Prädikat „Konzert des Jahres“ verleihen.

Rundfunk: 25. Oktober, 21 Uhr, Radio Vorarlberg; Nächste SOV-Konzerte: 23. und 24. Oktober, Montforthaus Feldkirch, Festspielhaus Bregenz, Christoph Altstaedt.