Wenn der Teppich zur Jam-Session einlädt

IBK-Förderpreisträgerin Selina Reiterer verbindet Textiles und Digitales.
BREGENZ Im Terminkalender von Selina Reiterer tut sich gerade einiges. Jüngst mit einem der begehrten IBK-Förderpreise ausgezeichnet, läuft, derzeit hinter verschlossenen Türen, aber wenigstens durchs Schaufenster sichtbar, eine Ausstellung der Vorarlberger Textilkünstlerin und Designerin im kollektiv in Bregenz und am Freitagabend jammte sie im Textilmuseum St. Gallen unter anderem mit einem Soundteppich und ihrem Projektpartner Oliver Maklott.
Interaktive, kommunikative Textilien
Aber der Reihe nach und im Einzelnen, das doch wieder ein Gesamtes ergibt: Die sieben Förderpreise der Internationalen Bodensee Konferenz (IBK) wurden 2021 erstmals in der Kategorie „Textile Materialien“ ausgeschrieben und an Textilschaffende und Künstler:innen vergeben, die in ihrem Werk textile Entwicklungsprozesse interdisziplinär zusammenbringen. Mit der Übertragung von wissenschaftlichen Methoden und Theorien in ihre artistic research entspricht das an der Schnittstelle von Kunst und Design angesiedelte, äußerst spannende und zukunftsorientierte Schaffen von Selina Reiterer diesem Anforderungsprofil geradezu perfekt. So konnte die Künstlerin, neben der in Berlin lebenden Vorarlberger Modedesignerin Elisabeth von der Thannen, einen der mit 10.000 Schweizer Franken dotierten Preise nach Vorarlberg holen. Die Jury anerkannte Reiterers Begeisterung für traditionelles Handwerk und Smart Technologies, vor allem aber ihre Fähigkeit, über taktile und visuelle Effekte, über berührungssensitive Sensoren oder über elektrisch leitfähige Textilien Interaktion herzustellen. Im Fokus ihres ebenso klugen wie sinnlichen Schaffens steht die Kommunikation über Textilien, die weit mehr können, als nur Bekleidung oder Vorhangstoff zu sein. Bekannt sind Arbeiten von ihr wie T-Shirts mit Touch-Sensoren, hydrophobe Bademode, die bei Wasserkontakt ein Muster zeigt, oder ein Teppich, der sich wie ein eigenwilliges Musikinstrument über Berührung spielen lässt.

Für ihr jüngstes Forschungsprojekt arbeitete Selina Reiterer im Rahmen des TaDA (Textile and Design Alliance)-Residenzprogramms, das die Begegnung zwischen zeitgenössischem Kunstschaffen und traditioneller und innovativer Textilproduktion in der Ostschweiz fördert, mit dem Wiener Medienkünstler Oliver Maklott zusammen. Bei der Veranstaltung TaDA-„Spinnerei“ im St. Galler Textilmuseum blieb bei der ungewöhnlichen Jam-Session und Performance des Duos nichts auf dem Teppich: Soundtextiles wie ein Teppich und zwei textile Touchscreens kamen als Instrumente zum Einsatz. In ihren neuesten Untersuchungen, die in Kooperation mit der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA stattfinden, experimentiert Selina Reiterer mit elektrisch leitfähigem Silbergewebe und einer völlig neuen Faser, die die Eigenschaft besitzt, das Licht zu fangen.

Neben den Forschungsarbeiten entstehen für Ausstellungen immer wieder textile und klangorientierte Rauminstallationen, wie das derzeit im Bregenzer kollektiv in der Maurachgasse aufgebaute Projekt „I was dreaming I was awake and then I woke up and found myself asleep“. Dazu verwandelt Reiterer den rechtwinkligen Raum und deformiert ihn mithilfe von gebogenen Vorhangstangen und weißem Stoff. Ganz in Weiß, der Orientierung enthoben zwischen verschwimmenden Grenzen und jenseits des kartesischen Koordinatensystems, findet man sich in einer Art Traumwelt wieder, die bei der Eröffnung durch künstlichen Rauch noch indifferenter und nebulöser wurde. Bei den Recherchen zu dieser Arbeit ist Selina Reiterer nicht nur auf komplett weiße, konturlose Folterräume gestoßen, auch die Lektüre von Friedrich Dürrenmatts surrealer Kurzgeschichte „Der Tunnel“ und der Tunnel als Symbol des Übergangs und Verbindung zweier Welten haben sie inspiriert. Um das Gefühl des Transitorischen und das Schwanken zwischen Wahrhaftigkeit und Imagination zu verstärken, platziert sie im kollektiv auf dem Boden ein altarartiges Objekt, mit an Grabbeigaben erinnernden Blumen, Amuletten und Vasen.
Derzeit wegen des Lockdowns geschlossen, wird die ursprünglich am 7. Dezember endende Laufzeit der Installation verlängert, auf dass sie dann hoffentlich doch noch irgendwann tatsächlich begeh- und im Raum erlebbar sein wird. Ariane Grabher
Die Ausstellung ist im kollektiv, Maurachgasse 1, in Bregenz, voraussichtlich ab 13. Dezember wieder geöffnet, jeweils Fr und Sa von 15 bis 18 Uhr, sowie nach Anfrage an hallo@kollektiv-raum.org