Von Kindern und Fluchten
Es gibt Wochen, da überlegt man sich verzweifelt ein gutes Thema, das man den Leserinnen und Lesern fürs Wochenende zumuten könnte. Und es gibt Tage, das weiß man nicht, womit man anfangen soll, so voll ist das Geschehen der letzten Tage und Stunden – jede einzelne Sache einen Kommentar wert. Das hat begonnen mit den 150 anonymen (!) Lehrern in Vorarlberg, die damit gedroht hatten, auf eine Impfpflicht, die mit 1. Februar angesagt ist, mit einer Kündigung zu reagieren. Für die Antwort darauf hätte man keinen ganzen Artikel gebraucht, die Antwort ist einfach: Sollen sie kündigen und schauen, wo sie unterkommen. In Deutschland wird es eine gleiche Pflicht geben, in der Schweiz ist sie wahrscheinlich. Arbeitslose wird es kaum geben, denn die Lehrer hätten ja Arbeit – sie wollen nur nicht. Also: Thema erledigt.
Doch dann kam Kurz, besser: ging Kurz. Rücktritt von allen Ämtern von ÖVP-Parteiobmann Sebastian Kurz. In direkter Folge: Bundeskanzler Schallenberg, oft auch der „Schattenkanzler“ und „Platzhalter“ von Kurz genannt, stellt sein Amt zur Verfügung – will aber doch in der Regierung bleiben. Und dann, zum Drüberstreuen sozusagen, legt auch Finanzminister Gernot Blümel, engster Vertrauter von Kurz, sein Amt nieder. Andere Ministerinnen und Minister stehen in der Warteschleife zum Rücktritt oder zur Ablöse. Man könnte durchaus Wunschkandidaten nennen.
Bei Kurz und Blümel fällt eine ähnliche Begründung auf: Beide haben sie die Familie neu entdeckt. Kurz sein eben geborenes erstes Kind, das er nach dem Rücktritt von allen Ämtern „mit meiner Freundin im Spital holen“ wollte, das ihm auch gezeigt habe, dass „es viel Freude auch neben der Politik gibt“. Blümel hat etwas länger gebraucht, er hat sich aber doch auch plötzlich erinnert, dass er doch schon zwei Kinder hat, die ihn nun ganz dringend benötigen. Sind sie nicht lieb, die beiden? Aber haben sie bei all den schönen Erkenntnissen nicht vergessen, dass hinter ihnen auch der Staatsanwalt steht, der gegen sie beide ermittelt? Könnten es also nicht weniger die Kinder als vielmehr die Flucht vor der Verantwortung sein, die die Rücktritte befördert hat?
Und nicht zuletzt: Mit Karl Nehammer werden wir einen neuen Bundeskanzler bekommen. Ein gelernter Soldat, erprobt im Nahkampf des Innenministeriums. Und auf harter Kurz-Linie in Bezug auf Flüchtlinge. Da gibt man sich in der ÖVP keine Blöße, da zeigt man, dass so Kleinigkeiten wir Rücktritt von Obmann, Kanzler und Finanzminister nichts am steinernen Herzen gegenüber den Gestrandeten des Spiels der Weltmächte ändern. Auch wenn sie rund um Europa in den Meeren und Flüssen wie die Tiere ersaufen.
„Könnten es also nicht weniger die Kinder als vielmehr die Flucht vor der Verantwortung sein, die die Rücktritte befördert hat?“
Walter Fink
walter.fink@vn.at
Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.
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