Walter Fink

Kommentar

Walter Fink

Stell dir vor, es ist Krieg

Kultur / 06.03.2022 • 06:30 Uhr

Es ist ein berühmtes Zitat – und meistens falsch, nämlich Bert Brecht zugeschrieben: „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Die Zeile stammt aus einem Gedicht des US-amerikanischen Dichters Carl August Sandburg (1878 -1967). Von anderer Hand wurde später als Bösartigkeit gegen den Friedensgedanken diesem Satz hinzugefügt: „Dann kommt der Krieg zu euch!“ Wir wollten das nicht glauben – bis vor etwas mehr als einer Woche.

Dann kam der Krieg. Mitten in Europa. Russland überfiel die Ukraine, schießt seit damals täglich Raketen und wirft Bomben auf große und auch kleine Städte, es lässt Panzer über ehemals fruchtbare Felder rollen, auf Häuser und Menschen schießen, Spitäler und Schulen werden dem Erdboden gleichgemacht. Es ist Krieg in der Ukraine, mit allen seinen unvorstellbaren Leiden, mit aller Brutalität, mit allem Morden. Es ist Krieg – und kein Ende in Sicht. Der russische Diktator Wladimir Putin wird nicht ruhen, bis die ganze Ukraine am Boden liegt, bis sich die Menschen vor Angst nicht mehr zu rühren trauen, bis jeder Widerstand im Keim erstickt ist. Es ist also Krieg – und alle gehen hin. Zumindest die Soldaten aus Russland, die, so wird gesagt, oft gar nicht wussten, dass sie im Krieg sind, die lange glaubten, sie seien Teil einer Übung. Seit sie die Häuser zusammenbrechen und die Menschen – auch ihre eigenen Freunde – sterben sehen, sind sie eines Besseren belehrt. Sie sehen, was sie anrichten. Und auch die Ukrainer gehen hin, sie wollen ihr Land verteidigen, oft mit untauglichen Mittel gegen einen übermächtigen Gegner, aber dafür mit dem Mut und mit der Sicherheit, auf der richtigen Seite zu stehen.

„Und wir schauen weiter zu. Vor lauter Angst, dass der Schrecken auch auf uns übergreifen könnte. Da dann doch lieber nur die Ukraine …“

Die Fernsehbilder, die wir alle ins gemütliche Wohnzimmer geliefert bekommen, sind erschreckend, sie sind unerträglich. Und sie schüren auch unseren Zorn, der sich aber nirgends entladen kann. Spenden können wir, Medikamente, Decken, Kleider und Geld. Aber helfen, helfen können wir nicht wirklich. Wir sehen dem Ringen zwischen David und Goliath zu, sehen, wie der Riese den Zwerg schlägt, verletzt, noch immer tritt, wenn er schon am Boden ist. Wären wir – in diesem Bild – bei einer Schlägerei, würden wir eingreifen, würden wir den Stärkeren hindern, weiter auf den Schwachen einzuschlagen. Hier, in diesem Krieg aber, schauen wir alle zu: Amerika, Europa, alle. Wir sehen, wie das ukrainische Volk längst am Boden liegt, der russische Bär aber weiter auf das schon verletzte Volk einschlägt. Und wir schauen alle zu. Und wir sehen schon das Ende: Die Ukraine wird von Russland, wird von Putin niedergemacht, jeder Protest endet im Gefängnis oder mit Tod. Und wir schauen weiter zu. Vor lauter Angst, dass der Schrecken auch auf uns übergreifen könnte. Da dann doch lieber nur die Ukraine …

Walter Fink ist pensionierter Kulturchef des ORF Vorarlberg.