Ausreichend psychologisches Material

Kultur / 21.08.2022 • 21:43 Uhr
„Iphigenia“ ist eine Neuschreibung der antiken Tragödie durch Bednarczyk. APA
„Iphigenia“ ist eine Neuschreibung der antiken Tragödie durch Bednarczyk. APA

„Iphigenia“ liefert eine gute Debatte zu den weiblichen Opferrollen in der europäischen Literatur.

Salzburg, Bregenz Die Salzburger Festspiele befinden sich erst in der Finalphase. Bevor der Vorarlberger Dirigent Manfred Honeck mit dem Pittsburgh Symphony Orchestra und der ersten Sinfonie von Mahler am 31. August den Schluss setzt, zeigte das Publikum in der ehemaligen Saline auf der Halleiner Pernerinsel (seit ein paar Jahrzehnten eine Spielstätte des Festivals) Durchhaltewillen. Nach einer Neuschreibung von Schnitzlers „Reigen“ durch zehn Autorinnen und Autoren, die so gut wie nichts mehr von Schnitzler enthielt (die VN berichteten), offerierte Schauspieldirektorin Bettina Hering die Bemächtigung des Iphigenie-Stoffes durch Joanna Bednarczyk. „Iphigenia“, vermerkt als frei nach Euripides und Goethe geschriebener Text, ist eine Koproduktion mit dem Thalia Theater. Das Unternehmen, mit dem der einstige Bregenzer Festspielintendant Alfred Wopmann kooperierte, ist seit einigen Jahren Partner der Salzburger. Während die Produktion „Reigen“ ab Mitte September am Zürcher Schauspielhaus zu erwarten ist, kommt „Iphigenia“ nach der Aufführungsserie auf der Pernerinsel somit nach Hamburg.

Sexueller Missbrauch

Joanna Bednarczyk und Regisseurin Ewelina Marciniak sind durch die Einladung zum Theatertreffen mit der Mannheimer Produktion „Jungfrau von Orleans“ quasi mit einem Prädikat versehen, das sie mit ihrer Klassikerumschreibung nun nicht beschädigen. Die Prolongation der Zeit der Dekonstruktion auf den Theaterbühnen wurde vom Publikum der zweiten Aufführung nach zweieinhalb pausenlosen Stunden mit viel Applaus akzeptiert. Ließe man die angeblich unvermeidlichen und mindestens eine zusätzliche halbe Stunde dauernden Body Expressions zur Untermauerung der Verfasstheit der Personen aus, bliebe immer noch ausreichend psychologisches Material, um sich mit den Figuren zu beschäftigen. Iphigenie tut kund, dass sie von Menelaos über Jahre sexuell missbraucht wurde. Vater Agamemnon, der sie bei Euripides für den Götterbeistand im Kriegsverlauf opfert, ist Wissenschaftler und fordert Mundhalten, weil das Bekanntwerden des Skandals den Verkauf seines neuen Buches über Täter und Opfer schaden könnte, auch die Mutter beschwichtigt, doch die Tochter widersetzt sich, wird aus Protest nicht dem Wunsch der Eltern folgen und eine Pianistinnenkarriere anstreben. Schon dieser Kern der Handlung ist ein starker Plot.

Iphigenia (konsequent nicht allzu verletzlich gespielt von Rosa Thormeyer) angesichts der sich vor allem mit sich selbst beschäftigten Familienmitglieder zur Reflexion ein Alter Ego gegenüberzustellen, ist eine gute Idee. Auch die Begegnung mit dem erwachsenen Orest (hier in einem Inselhotel als Pendant zur Verbannung) lässt zum Schluss kommen, dass „Iphigenia“ ein Stück ist, das per absolut tauglichem Text den Diskurs zu den weiblichen Opferrollen in der klassischen Literatur auch mit allen weiteren Personen anreisst. Im großen Raum der Pernerinsel, in dem das Ensemble neben den intensiven Dialogpassagen auch zu Exaltiertheit angehalten war, hat das Stück allerdings nicht seinen idealen Ort gefunden, verliert an Stringenz und erhält mit einem brennenden Klavier einen nur fahlen Schluss. CD

„Iphigenia“ läuft bei den Salzburger Festspielen bis 28. August und im Thalia Theater Hamburg bis 22. September.