Da gehen einem die Augen und Ohren auf

Lotte de Beer denkt mit „Jolanthe und der Nussknacker“ zwei Tschaikowski-Werke neu.
Wien, Bregenz Sich die Welt nicht einfach schön zu denken, sondern so schön zu denken, wie sie sein könnte, das ist ein Thema, das Künstlerinnen und Künstler immer wieder aufgegriffen haben. Die Musik, die Malerei, die Literatur, aber auch das Theater zeugen davon. Mit diesem Auftrag ist nun auch Lotte de Beer angetreten, die mit „Jolanthe und der Nussknacker“ die erste eigene Inszenierung als Intendantin der Wiener Volksoper präsentiert. In Vorarlberg ist die niederländische Regisseurin bestens bekannt. Sie hat bei den Bregenzer Festspielen „Moses in Ägypten“ von Rossini inszeniert, dabei mit dem Figurentheaterkollektiv Hotel Modern zusammengearbeitet und die von den Sängerinnen und Sängern getragene Opernhandlung und ein live gefilmtes Miniaturpuppenspiel ineinanderfließen lassen. Ihrer Inszenierung von Verdis „Ernani“, für die sie Elisabeth Sobotka erneut nach Bregenz verpflichtet hat, wird jedenfalls mit Interesse entgegengeblickt.
Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei „Jolanthe und der Nussknacker“ wiederum um eine Verkoppelung, diesmal geht es neben den Disziplinen Tanz und Musiktheater um zwei Werke von Peter Tschaikowski, nämlich um die eher selten gespielte, 1892 uraufgeführte Oper „Jolanthe“ und um ein Handlungsballett schlechthin, nämlich dem zur selben Zeit präsentierten „Nussknacker“.
Das Konzept, die Werke nicht hintereinander anzubieten, was durchaus Tradition hat, sondern sich wie Dirigent Omer Wellber der enormen Herausforderung einer Überlappung der beiden Partituren zu stellen, erhält enormen Reiz. Der Kontrast zwischen den Gesangslinien der Oper um ein blindes Mädchen, das sich die Welt imaginiert, dann aber sehen lernt bzw. erwachsen wird, und den bekannt schwungvollen Ballettszenen könnte kaum stärker sein.
Die Verflechtung ist hervorragend gemacht, da gehen einem die Ohren auf und dazu hält sich Lotte de Beer auch klug überlegt zurück. Auf der Bühne von Karin Lea Tag gibt es gerade einmal ein paar Stühle. Die Assoziation zu einer Familienaufstellung ist nicht verkehrt, schließlich ist der Vater jener, der die Entwicklung der Tochter behindert hat.
Viel Psychologie
In der Personenführung liegt viel Psychologie, die sich dem ganz jungen Publikum (das heißt jenen Winzlingen, die gerne ins Weihnachtsmärchen geleitet werden) dieser als Familienoper angebotenen Produktion wohl nicht so leicht erschließt, aber ein Mehr an Ausstattung oder Symbolik würde nur schaden. Auf die Überbetonung der märchenhaften Liebesgeschichte mit dem um sie werbenden Prinzen zu verzichten, ist zudem ein kluger Schachzug. Wir wollen doch Mädchen stark machen und sie nicht in die Abhängigkeit von einem Mann treiben. In den dunklen Seiten der „Nussknacker“-Handlung lassen Lotte de Beer und Choreograf Andrey Kaydanovskij dann zudem recht deutlich einiges von dem durchblitzen, was durch Hass und Neid entsteht.
So erhält ein sehr gestraffter „Nussknacker“ ohne Zuckerguss und Spitzentanz, aber mit viel Bewegungskomplexität Substanz und die „Jolanthe“-Geschichte wird hier von jener Banalität entstaubt, die dem Libretto von Modest Tschaikowski anhaftet. Sein berühmt gewordener Bruder Peter hat eine Titelpartie geschaffen, für die sich Olesya Golovneva so kraftvoll ins Zeug legt, dass das Bild vom hilfsbedürftigen Kind bald schwindet. So könnte man ihre Interpretation jedenfalls sehen und sie wäre nicht falsch. CD

Nächste Aufführung am 17. Oktober und zahlreiche weitere an der Wiener Volksoper.