Romane über Zukunft und Vergangenheit

Kultur / 03.11.2023 • 17:28 Uhr
Hund 51Laurent Gaudé, dtv, 352 Seiten

Hund 51

Laurent Gaudé, dtv, 352 Seiten

Charlotte Gneuß schaut zurück in die DDR, Laurent Gaudé legt einen futuristischen Roman hin.

Longlist Die Zukunft beginnt im Jetzt, vielleicht auch schon ein bisschen in der Vergangenheit. „Hund 51“ nennt sich der neue Roman des französischen Bestsellerautors Laurent Gaudé. Er steigt direkt in den wirtschaftlichen Niedergang Griechenlands ein und landet damit beim fiktiven Verkauf des Landes an ein Konsortium Namens GoldTex. Der Grieche Zem Sparak erlebt am eigenen Leib den Untergang Athens und schafft es gerade noch, seine Heimat zu verlassen. In einem fernen Land, welches ebenso zum GoldTex-Konsortium gehört, wird Sparak in die Zone 3 eingestuft, in der das Leben der Unterdrückten stattfindet, während Zone 1 und 2 privilegiert sind und vom wirtschaftlichen Output der Zone 3 leben. Sparak wird als Schnüffler für die Polizei eingesetzt, was zugleich sein persönliches Handicap ist. Ein Leben zwischen vergangenheitslastiger Melancholie, einer launischen Gegenwart und einer ungewissen Zukunft nimmt seinen Lauf, bis Sparak auf eine über die gesamte Länge aufgeschlitzte männliche Leiche trifft. Alles deutet auf einen Organhandel mit Anti-Aging-Implantaten hin. Zusammen mit Kommissarin Samia Malberg, aus Zone 2, soll er den Fall lösen, für Zwischenmenschliches ist also ebenso gesorgt. Uff! Wie den Zeilen zu entnehmen ist, wird hier mächtig viel Inhalt angekarrt. Also, um die Welt in einem zukunftsträchtigen Roman à la Fahrenheit 451 zu erklären, braucht es eben Stoff. Die Welt von heute damit zu verbinden, ebenfalls. Betreffend der Aura des Romans setzt der Autor zur Landung im Cyberpunk-Zeitalter der Terminator-Ära an. In „Hund 51“ versprechen künstliche Körperteile ein verlängertes, vor allem jüngeres Leben. Dazu wird im Zuschnitt des Duos Ray Bradbury und François Truffaut eine kritische Systemhinterfragung im besten Sinne betrieben. Wäre diesbezüglich schön gewesen, die EU einfließen zu lassen, inklusive eines wackeligen Bilds von Ursula von der Leyen, die mitteilt, wie es denn zu solch einer Katastrophe kommen hat können. SF-Romane werden oft daran bemessen, was sie denn erfunden haben. Ist im Grunde nicht fair, denn man kann aus Vorhandenem einen guten Roman bauen, der läuft. „Hund 51“ zählt zu dieser Sorte. Doch die Zukunft hat längst begonnen: Asiatische Staaten kaufen sich Fischereirechte in den Meeren der 3. Welt sowie ganze Hafenanlagen rund um den Globus.

Coming of Age in der DDR

„Gittersee“ nennt sich Charlotte Gneuß’ Debütroman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 stand und unter anderem mit dem „aspekte“-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Wie der Buchtitel bereits verrät, geht es um den Dresdner Vorort Gittersee in den 1970er-Jahren. Genauer: Die 16-jährige Schülerin Karin vertreibt sich ihre Zeit mit ihrer besten Freundin Marie und schwärmt von ihrem ersten Freund Paul. Karins Leben ist allerdings nicht so unbeschwert, wie es scheint: Neben der Betreuung ihres alkoholkranken Vaters greift Karin ihrer beruflich vielbeschäftigten Mutter unter die Arme und kümmert sich um ihre kleine Schwester. Wäre das nicht genug, taucht Paul nach einem Auslandsaufenthalt nicht mehr auf! Karin wird von der Stasi kontaktiert und verdächtigt, Beihilfe zur Republikflucht geleistet zu haben.

Im Mittelpunkt des Romans stehen die Verarbeitung des Verlusts einer nahestehenden Person, die niemals aufhörende Suche nach Paul und grundsätzlich das fehlende Vertrauen in Bezugspersonen, denn jede Person aus dem persönlichen Umfeld könnte ein Stasi-Spitzel sein. Gneuß fängt die Emotionen rund um Karins Gedanken gekonnt ein: Durch eine menschennahe und detailgetreue Beschreibung des alltäglichen Lebens – sei es die Knappheit an Luxusgütern oder propagandistische Unterrichtsinhalte – wird „Gittersee“ zu einer gelungenen Zeitreise in DDR der 1970er-Jahre. Das offene Ende hallt bewusst nach.

GitterseeCharlotte Gneuß, 236 Seiten, S. Fischer

Gittersee

Charlotte Gneuß, 236 Seiten, S. Fischer