Konservierte Erinnerung

„A wandering Mind“.
Marianne Thoermer präsentiert ihre neuesten Werke in der Galerie Sechzig in Feldkirch.
Feldkirch Die 1987 in Halle geborene deutsche Künstlerin Marianne Thoermer, die anfänglich aus der Malerei kommt, sich während ihres Kunststudiums in Berlin und London vor allem mit textiler Kunst, teilweise großformatigen Installationen wie dem in der Galerie gezeigten „Crying Carpet“ (2018) Ausdruck verschafft und internationale Bekanntheit errungen hat, wendet sich seit der Coronapandemie wieder verstärkt der Leinwand zu. Ihr „Crying Carpet“ ist eine großformatige Installation und war 2018 in der Royal Academy of Arts in London zu sehen. Ein Baumwollnetz fungiert als Träger, auf dem ein Augenpaar und Tränen, in verschiedenfarbiger Schurwolle von Hand geknüpft, zu sehen sind. Die Tränen „fließen“ aus den Augen der Wand entlang und breiten sich auf dem Boden der Galerie rhizomatisch aus. Ob Tränen der Freude, der Trauer oder der Rührung lässt Thoermer dahingestellt.
Thoermer geht es um haptische Formgebung, Dynamik, um die Flüchtigkeit eines Augenblicks und die Flüchtigkeit als Erinnerung zu konservieren. Sie kombiniert textiles Material mit Glaswachs, das, erhältlich in kristalliner Form, erhitzt wird und über die geknüpften Arbeiten gegossen wird. So entstehen eigenartige Gepräge, Mischwesen, teils Kalligrafien gleich, von luziden Farben und glänzenden Oberflächen. Wie Flechten und Moose schimmert die darunter befindliche Schurwolle durch, scheint das Glaswachs zu überwuchern, oder wird vom Glaswachs wie von einem überbordenden Teig nach und nach vereinnahmt. Es ist ein ständiges Ineinanderfließen verschiedener Materialien.
Ein Ineinanderfließen
In ihren Gemälden ist ebenso wie in den Glaswachs-Wolle-Stramin-Arbeiten ein Ineinanderfließen der Ölfarben auszumachen, ob in den Arbeiten „The last Sunday“ (2023) hier ist eine Szene vor einem Marktstand abgebildet, die Gesichter, Hände, aber auch die Kleidung der Markständlerinnen und der Käuferin sowie deren Utensilien verschwimmen nahezu – oder auch in „Our Oath“ (2022/23), ein gelbraun und grünlich schimmernder Fluss, auf dem ein Jugendlicher in einer Art Kiste treibt. Vor ihm schwimmt ein Stahlfass, das an ein Ölfass erinnert. Die ganze Szenerie suggeriert eine Klima-/Ölkatastrophe. Auch hier verschwimmen die eingesetzten Ölfarben träge und zähflüssig.
Rosige-Vergangenheit-Verzerrung
„A wandering Mind“ (2023), dargestellt ist eine Schlafstatt in einer Herberge, unter der Pritsche stehen Schuhe, die an die rätselhaften Bauernschuhe (1886) von van Gogh erinnern und den Philosophen Martin Heidegger zu Äußerungen wie „derbgediegene Schwere des Schuhzeugs“ und „Auf dem Leder liegt das Feuchte und Satte des Bodens“ veranlassten; seine Interpretationen wurden ihm als zu angebräunt zurückgegeben. Mit diesen Befindlichkeiten hat Thoermer nichts am Hut. Ihr Credo konserviert die Erinnerung und eines ihrer Phänomene, die Rosige-Vergangenheit-Verzerrung. Kurz, wir alle glauben im Nachhinein, dass unsere Erlebnisse interessanter und besser gewesen seien, sie werden verklärter dargestellt, als sie tatsächlich waren, das betrifft auch die Farben in der Erinnerung. Von ansprechender Ästhetik ist auch ihr neuestes Werk „The Strategists“ (2023), Kinder spielen mit einer rollschuhlaufenden Puppe. Sie hat das Bild sequenziert und in verschiedene Teile aufgebrochen, etwa in der Tradition von Roy Lichtensteins „Modern Art II“ (1996). Verschiedene Perspektiven, verschiedene Details, nichts ist greifbar, alles ist flüchtig. Was bleibt? THS
Galerie Sechzig, Marianne Thoermer What Remains, bis 2. Dezember 2023, www.galeriesechzig.com