Ausgrenzung und Verfolgung

In seinem Buch rekonstruiert Gernot Kiermayr das Leben von Oswald Schwendinger.
Menschen wie Oswald Schwendinger, die sich den gesellschaftlichen Normen widersetzten oder sie nicht einhalten konnten, galten als „abweichend“ und gerieten deshalb häufig mit dem Gesetz in Konflikt und wurden „straffällig“. Ihre zunächst milden Strafen markierten oft den Beginn eines weiteren sozialen Abstiegs, im Nationalsozialismus wurden sie aus der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen. Kiermayr widmet sich seit vielen Jahren der Erforschung jener Vorarlberger, die in der NS-Zeit aufgrund ihrer als „erbkrank“, „minderwertig“ oder „asozial“ eingestuften Eigenschaften verfolgt und oft ermordet wurden.
Ihr Buch „Warum musste Oswald Schwendinger sterben?“ taucht tief in das Leben Oswald Schwendingers und ähnlich stigmatisierter Individuen während der NS-Zeit ein. Was inspirierte Sie zu dieser tiefgehenden Untersuchung?
Kiermayr Ursprünglich entstand die Idee während der Arbeit an meiner Dissertation, in der ich das tragische Schicksal psychisch kranker und als erbkrank bezeichneter Menschen während der Zeit des Nationalsozialismus untersuchte. Als ich die Gelegenheit hatte, mich intensiver mit dem Thema zu beschäftigen, entdeckte ich die Tiefe und die Notwendigkeit einer genaueren Erforschung. Das Projekt hat eine Eigendynamik entwickelt und ist nun abgeschlossen.
Sie zeichnen eine historische Linie von der Armutspolitik in der Monarchie und der Ersten Republik bis zur rassenpolitischen Verfolgung im Nationalsozialismus. Welche Parallelen und Unterschiede sehen Sie im Umgang mit sozial marginalisierten Menschen durch die verschiedenen Epochen?
Kiermayr Ein fundamentaler Unterschied liegt darin, dass die Politik bis zum Austrofaschismus keine eliminierende Agenda verfolgte. Es gab zwar Ausgrenzung, Inhaftierungen und schlechte Behandlungen in Verwahranstalten, aber das Töten war tabu. Die Nationalsozialisten überschritten diese Grenze ohne Bedenken.
Oswald Schwendinger wurde in einer Beurteilung durch den Direktor seiner Volksschule als „geistig nicht ganz normal“ beschrieben. Wie repräsentativ ist seine Geschichte für andere, die während der NS-Zeit als „asozial“ oder „kriminell“ gebrandmarkt wurden?
Kiermayr Leider sind die persönlichen Geschichten dieser Menschen kaum bekannt, da sie extrem selten eigene Aufzeichnungen hinterließen. Aber Verwaltungsdokumente bieten Einblicke. Besonders im Fall Oswald Schwendinger, durch den wir ein Fenster in das Leben dieser vergessenen Opfer öffnen können. Schon in seiner Jugend begann die stigmatisierende Ausgrenzung, die seine „Negativkarriere“ prägte, und offenbart die tief verwurzelten Klassenvorurteile der damaligen Gesellschaft.
Sie betonen, dass eine öffentliche Anerkennung der Opfer sozialrassistischer Verfolgung bis heute fehlt. Warum hält diese Ignoranz an und wie können wir die Erinnerung an diese Opfer wachhalten?
Kiermayr Die Anerkennung dieser Opfer begann erst spät, Ende der 1990er-, Anfang der 2000er- Jahre, bedingt durch restriktive Opferfürsorgegesetze, die Menschen mit Vorstrafen ausschlossen. Eine Möglichkeit, die Erinnerung wachzuhalten, ist die aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Wenn Menschen auf ein Stigma stoßen, sollte es kein Grund für Scham sein, sondern ein Anstoß, die Unrechtmäßigkeit der Ausgrenzung und Verfolgung zu erkennen und ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rufen. VN-AMA