Eine Carmen jenseits der Klischees

Kultur / 09.04.2024 • 14:38 Uhr
Carmen
Das Opernhaus Zürich bringt in seiner neuesten Inszenierung Georges Bizets “Carmen” auf die Bühne. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Das Opernhaus Zürich präsentiert eine Neuinszenierung des Meisterwerks von Bizet.

Zürich Gleich zu Beginn lässt der scheidende Intendant Andreas Homoki den Chor seine Eröffnungsnummer «Sur la place chacun passe» direkt ins Publikum singen: «Seltsame Leute kann man da sehen». Und dann geht der rote, geblümte, geraffte und mit Zierkordeln versehene Theatervorhang auf und zu, auf und zu, unzählige Male bis zum Ende. Die Neuinszenierung von Georges Bizets “Carmen” am Opernhaus Zürich präsentiert eine Interpretation, die sowohl die Tradition respektiert als auch zeitgenössische Sensibilitäten anspricht. Die Produktion, eine Zusammenarbeit mit der Opéra-Comique in Paris, wo “Carmen” 1875 uraufgeführt wurde, bricht mit gewohnten Darstellungen.

Carmen
Eine beeindruckende Leistung, liefert Saimir Pirgu als Don José. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Durch die bewusste Vermeidung von Klischees – kein typisch spanisches Ambiente, keine Schmuggler, keine Stierkampfarena – schafft Homokis Raum für eine frische Interpretation. Das Bühnenbild von Paul Zoller, eine Nachbildung des Bühnenraums der Opéra-Comique, unterstützt diesen Ansatz. Die Inszenierung nimmt sich die Freiheit, zwischen verschiedenen Zeitebenen zu springen, von der Belle Époque über das besetzte Paris 1944 bis in die Gegenwart, was die Überzeitlichkeit des Themas “Carmen” unterstreicht.

Carmen
Großartige Leistung des wunderbaren Kinderchors des Opernhauses Zürich. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Diese Entscheidung erlaubt es, die Figuren und ihre Motive genauer zu untersuchen. Carmen wird nicht nur als verführerische Femme fatale dargestellt, sondern als Figur mit eigener Agenda und Überzeugung, deren Handlungen im Kontext der verschiedenen Zeitebenen unterschiedlich interpretiert werden können. Homoki und sein Team nutzen die Musik Bizets nicht nur zur Untermalung der Handlung, sondern als Schlüssel zum Verständnis der Figuren und ihrer inneren Kämpfe. Die Inszenierung zeigt, dass die Fragen und Konflikte, die “Carmen” behandelt, Teil der menschlichen Erfahrung sind.

Carmen
Carmen wird nicht nur als verführerische Femme fatale dargestellt, sondern als Figur mit eigener Agenda. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Hervorragend ist die musikalische Leitung von Gianandrea Noseda. Noseda gelingt es souverän, die Philharmonia Zürich durch Bizets komplexe Partitur zu führen und die vielfältigen Landschaften der Musik sensibel und präzise herauszuarbeiten. Seine Interpretation balanciert zwischen Leidenschaft und Zurückhaltung, was der Aufführung eine bemerkenswerte dynamische Bandbreite verleiht. Unterstützt wird er dabei von den großartigen Leistungen des Chors und des wunderbaren Kinderchors des Opernhauses Zürich, die darstellerisch mit Leidenschaft und Inbrunst spielen, aber auch stimmlich zu überzeugen wissen.

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Marina Viotti gab ihr Rollendebüt als Carmen. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Die musikalische Darbietung von Marina Viotti in ihrem Rollendebüt der Carmen ist gemischt. Während sie in den höheren Registern überzeugt, mangelt es ihr in den Mittel- und Tieflagen an der notwendigen Intensität, um ihren Mitsängern gegenüber zu bestehen. Saimir Pirgu als Don José liefert eine beeindruckende Leistung, die die innere Zerrissenheit und Tragik seiner Figur deutlich macht. Pirgus stimmliche Brillanz und seine schauspielerische Tiefe machen seine Darstellung des Don José zum emotionalen Zentrum der Aufführung. Im Zusammenspiel mit Viottis Carmen entsteht eine Dynamik, die den tragischen Verlauf ihrer Beziehung glaubhaft vermittelt.

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Die Inszenierung zeigt, dass die Fragen und Konflikte, die “Carmen” behandelt, Teil der menschlichen Erfahrung sind. Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Natalia Tanasii bietet als Micaëla eine der stärksten und emotional ergreifendsten Darbietungen der Produktion. Ihr klarer, lyrisch intensiver Sopran und ihre überzeugende schauspielerische Leistung machen diese Micaëla zu einer zentralen, moralischen Kraft in der Geschichte, deren musikalische Momente zu den Höhepunkten der Aufführung gehören. Während Łukasz Goliński als Escamillo szenisch überzeugt, lässt seine gesangliche Leistung im Vergleich zu seinen Mitsängern etwas zu wünschen übrig. Obwohl er die körperliche Präsenz und Ausstrahlung für die Rolle des Toreros mitbringt, fehlt es ihm an der nötigen stimmlichen Strahlkraft, um seine Darstellung eindringlich zu gestalten.