Lesen, wo andere Urlaub machen

Peter Natter reist mit Dante in den Südtiroler Vinschgau.
Glurns/Glorenza Da bin ich nun, für eine Frühlingswoche in Glurns/Glorenza, weit oben im Südtiroler Vinschgau angekommen. Die Apfelbäume, von denen es hier bekanntlich mehr als genug gibt, blühen, die Luft ist frisch, der Himmel, nein: das Firmament (noch) hellblau, die Wiesen grün mit zahllosen goldgelben Löwenzähnen. Solange der Wind vom Reschenpass herunterweht, sagt man, scheint die Sonne und illuminiert die verschneiten Berge. Schön ist das.
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Was mich hergebracht hat? Es ist ein scheinbar ziemlich aus der Zeit gefallenes Projekt, nämlich ein Buch, natürlich nicht irgendeines, sondern die „Göttliche Komödie“ von Dante Alighieri (1265–1321) zu lesen, ein knapp über 700 Jahre altes Werk, in dem die imaginierte Jenseitswanderung des Autors durch Hölle, Fegefeuer und Paradies zurück ins Leben geschildert wird. Die Lektüre ist schwierig, weil der riesige Text, ein mehrhundertseitiges Gedicht, für uns Heutige ob der zahllosen Anspielungen und Bezüge auf Dantes Zeit und enormen Bildungshorizont einerseits und auch ob der grundsätzlichen Thematik – die Erlösung von allem Bösen – kaum zugänglich ist. Nur wo es um die abgründige Schlechtigkeit der Welt mit Mord und Totschlag, Gier und Neid, Verrat und Korruption geht, fühlt man sich in der Gegenwart angekommen. Immerhin.
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Das winzige Städtchen Glurns mit gerade einmal 900 Einwohnern ist mit seinem intakten mittelalterlichen Flair eine ideale Kulisse für ein solches Unternehmen. Weil derzeit die Kanalisation erneuert wird und die wenigen (gepflasterten!) Straßen zwischen den mächtigen Tortürmen der Stadtmauer für Autos gesperrt sind, ist die Atmosphäre noch stimmiger. Zum Glück hat auch die Tourismussaison noch nicht voll eingesetzt. Der jahrhundertealte Gasthof am Stadtplatz, in dem ich wohne, vermittelt, auch wenn er sich Boutiquehotel nennt, eine Ahnung davon, dass eine andere Zeit, ein anderes Dasein möglich war und ist.

Zur Widerlegung des alten Vorurteils, wonach Büchermenschen Stubenhocker sind, unternehme ich etliche Ausflüge. Einer führt mich per Fahrrad hinauf ins Dörfchen Schlinig auf 1750 m Seehöhe, 200 Einwohner, 400 Kühe und nicht von ungefähr steht ein großer Futtermittelsilolastwagen vor einem der Bauernhöfe. Auf Schritt und Tritt liefert der Vinschgau Anschauungsmaterial für den schwierigen, ja verzweifelten Versuch der Menschen, das Herkömmliche und damit sich selbst im Gegenwärtigen zu erhalten. Das gilt im Ökonomischen wie im Sozialen. Es ist nicht damit getan, weiterzumachen wie schon immer; ebenso wenig ist es damit getan, sich der globalisierten, digitalisierten Welt in die Arme zu werfen. Eine Lektüre wie die „Göttliche Komödie“ hat hier einen extrem heilsamen und auch motivierenden Effekt. Dantes Werk lenkt die Aufmerksamkeit so schonungslos wie konstruktiv auf die Menschen und ihr Tun. Es verweist warnend auf die allgegenwärtigen negativen Kräfte und auch auf das heilende Potential spiritueller Energie. Auch wenn ich meinen Aufenthalt im Sehnsuchtsland Italien wegen eines heranziehenden Tiefdruckgebiets mit Schnee und Kälte vorzeitig beende, bleibt ist ein tiefer Einblick in das Menschliche und die Begegnung mit konkreten Zeitgenossen in ihrem Bestreben, eine uralte bäuerliche Kultur mit neuem, modernem Leben zu füllen.