Apokalypse auf Raten

Kultur / 16.05.2024 • 22:16 Uhr
All about me Bregenzer Frühling
Martin Gruber hat zusammen mit Wolfgang Mörth und dem Ensemble den Text zu „All About Me“ verfasst. anja köhler

„All About Me. Kein Leben nach mir.“ im Rahmen des Bregenzer Frühling.

Bregenz „Was war. Was ist. Was kommt …“, so die einleitenden Worte auf der Flyerkarte des aktionstheater. Und weiter: „Das aktionstheater ensemble … begibt sich in einem infernalisch-magischen Text-, Musik- und Bilderreigen auf die Suche.“ Das aktionstheater begibt sich nicht auf die Suche … das ist anachronistisch. Sie sind schon längst angekommen! Nicht erst jetzt zu ihrem 35-jährigen Betriebsjubiläum, schon vor langer Zeit hat Martin Gruber und sein Team jene Nische in der österreichischen Theaterlandschaft gefunden und besetzt, die das aktionstheater so einzigartig macht – abholen, dort wo’s weh tut, Theater geradezu am Nullpunkt, sprachlich, darstellerisch, dramaturgisch. Kein Handke, kein Turrini, kein Schwab. Martin Gruber eben.

All about me Bregenzer Frühling
Was für eine Freude für die Augen, was für eine Freude für die Ohren. anja köhler

Was wie ein Sketch des „Sprach-Anarchisten“ und Komikers Karl Valentin beginnt „… dann fängt es an zu regnen und ich gehe wieder zurück ins Bett …“, endet in einer minutiösen Anleitung, wie man eine andere Person zu umarmen hat. Spätestens dann hat man verstanden, dass man selbst der Sprache nicht mehr vertrauen kann. Nimmt man das griechische Wort „apokálypsi“ wortwörtlich, so bedeutet es nichts anderes, als „den Schleier von etwas wegnehmen, also etwas enthüllen“. Martin Gruber, der zusammen mit dem Ensemble und Wolfgang Mörth den Text zu „All About Me“ verfasst hat, lüftet nahezu unmerklich Schleier um Schleier, die die „Poesie des Alltags“ verhüllen. Gnadenlos und unbeirrbar bis zum Schluss. „The rest is silence?“ Mitnichten. „Es gibt so Glückssternchen. So ganz kurze. Ah, das war jetzt ein schöner Moment“, sagt Benjamin Vanyek. Und er hat recht damit. Das interagieren ist der Konflikt, die Sprache des Alltäglichen wird zur Zerreißprobe, Banalität folgt auf Banalität, Geistesblitz auf Geistesblitz. Das Nichtgesagte wird immer mehr und mehr angehäuft, einer Müllhalde gleich, erreicht gigantische Ausmaße und bricht letztendlich in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Zurück zum Start. Das Spiel kann von vorn beginnen. Endlosschleife.

All about me Bregenzer Frühling
Die Sprache des Alltäglichen wird zur Zerreißprobe, Banalität folgt auf Banalität. anja köhler

Was für ein Augenschmaus, was für ein Hörgenuss. Allesamt aus einem Guss. Isabella Jeschke, Andreas Jähnert, Thomas Kolle, Kirstin Schwab, herrlich wie sie sich in das Leben einer Einjährigen versetzt, Tamara Stern, großartig wie sie ihre Wut, ihre Trauer, ihre … auf Hebräisch hinausschreit. Fällt der Groschen? Und dann den schon erwähnten Benjamin Vanyek, er ist der Einzige, der den uniformen, schmutzigen und grauweißen Overall des Ensembles auszieht, sich das schwarze Kleid eines „bürgerlichen Trauerspiels“ überstreift und traumwandlerisch wie ein Seher aus einem Pasolini-Film (Medea, Edipo Re) zwischen Profanität und Transzendentalität changiert. Wolkenverhangener Himmel als Bühnenhintergrund, der sich links und rechts bis in den Zuschauerraum hineinzieht. Die Bühne – eine schiefe Ebene mit denselben gesprenkelten Graureflexen. Erst dunkel-, dann hellgrau, dann nahezu weiß, dann wieder bedrohliches Dunkel, und dann der Regen, wie in einem dystopischen Zack Snyder-Film. Es sind keine Wasserschliere, die sich hier ihren Weg bahnen, es sind cuts, deepest cuts. Bisher gab es kaum eine derartig kräfte- und atemraubende Aufführung des aktionstheater ensemble, eine fast unterbrechungslose Choreografie, Bewegung bis zum Erbrechen.

All about me Bregenzer Frühling
Eine fast unterbrechungslose Choreografie, Bewegung bis zum Erbrechen. anja köhler

„Well I know future is already gone, filled my heart with stones“ intonieren und singen Andreas Dauböck, Ernst Tiefenthaler, Emanuel Preuschl und Jan Philipp Viol, die glänzend disponiert waren, und der düstere, graue, wolkenverhangene Horizont senkt sich und verschmilzt mit der farblich identen Bühnenebene. Wie heißt es so schön im Stück: „Große Künstler erkennt man oft erst nach dem Tod”.

Thomas Schiretz

Weitere Aufführungen:

19., 21., 23., 24. und 25.5. jeweils 19:30 Uhr

Vorarlberger Landestheater

www.aktionstheater.at

www.bregenzerfruehling.com