“Über kurz oder lang”
Ich mochte ihnen dieses Mal eine Neuerscheinung auf dem Buchmarkt vorstellen und sie samt seinem Autor auch gleich ans Herz legen. Es ist das Buch “Über kurz oder lang” mit dem sich der Kulturwissenschaftler und Professor an der Universität für Angewandte Kunst wieder einmal als brillanter Essayist und Geschichtenerzähler erweist.
Strouhal hatte sich bislang intensiv mit der Theorie und Praxis des Spiels beschäftigt. Mit Publikationen wie “Acht x acht. Zur Kunst des Schachspiels” oder “Madness. Von Schönheit und Schrecken des Schachspiels” und einer wöchentlichen Schach Kolumne in einer Wiener Qualitätszeitung gilt er mittlerweile als die österreichische Schachautorität. Sein Interesse an technischen Utopien und Maschinentraumen ließ ihn mehrere Bücher veröffentlichen, unter anderem gemeinsam mit Brigitte Felderer: „Kempelen – zwei Maschinen. Texte, Bilder und Modelle zur Sprechmaschine und zum schachspielenden Androiden Wolfgang von Kempelens“. Strouhal konstruierte gar einen Nachbau von Kempelens Sprechmaschine aus dem Jahr 1791, die auf dem Konzept einer möglichst naturgetreuen Nachbildung der menschlichen Sprechorgane basierte.Sein von der Kritik gelobtes Buch “Die vier Schwestern”, indem er die Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Schwestern über Hunderte Briefe erzählt, die sie sich nach ihrer Flucht vor dem nationalsozialistischen Terror aus aller Herrenländer schriebe, ist ergreifendes Zeugnis vom Leben starker, kämpferischer Frauen und einer verklungenen Epoche.
„Er zieht auch interessante Parallelen zur Selbstgerechtigkeit der 68er Elterngeneration und ihrer Verklärung einer revoltierenden Jugend.“
In “Über kurz oder lang”, erschienen im Czernin Verlag, fügt Strouhal Autobiografisches, persönliche Begegnungen, An- und Einsichten aus einem Leben zu einer herrlichen “Tour de Horizon” über Kunst, Kultur und Geistesgeschichte. Da gibt es die wundersamen Erzählungen vom fliegenden Robert aus dem Struwelpeter, von einer Brückensammlerin oder einem Kunstlutscher. „Über kurz oder lang” ist auch eine unterhaltsame Reise durch ein anderes, bislang unentdecktes Europa von einem Entmagnetisierungspunkt auf Rügen bis ins Schweizer Schattenreich des Geldes. Da wird das Wiener Hotel Kummer zum Ausgangspunkt eines Spazierganges durch den Siebten, den Wiener Bezirk der Grünen Bobos und eine luzide Auseinandersetzung mit Wokismus, Cancel culture, Identitätspolitik und postkolonialer Moralismus. Strouhal lässt Kritiker des Wokismus wie Susan Newman, die den Wokisten vorwirft die Universalität der Menschenrechte zu negieren, totalitär zwischen Gut und Böse zu trennen und Sensibilität anstelle von Ratio und politischem Denken zu setzten. Er zitiert Alain Finkielkraut, der im Wokismus die totale Infragestellung der westlichen Kultur sieht. Und er zieht auch interessante Parallelen zur Selbstgerechtigkeit der 68er Elterngeneration und ihrer Verklärung einer revoltierenden Jugend. Strouhal Überlegungen sind ein leidenschaftliches Plädoyer eines Skeptikers für die Universalität der Menschrechte und die Rückbesinnung auf Aufklärung und Demokratie.
Dr. Gerald Matt ist Kulturmanager und unterrichtet an der Universität für Angewandte Kunst in Wien.
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