Kommentar: Die Sommerfrische und der „Failler“

VN Kommentar von Gerald Matt.
Als ich ein Kind war, fuhren wir nicht auf Sommerurlaub, sondern in die Sommerfrische. Und Sommerfrische, das waren für meine Schwestern und mich zumindest zwei bis drei lange Wochen Aufenthalte, in denen die Zeit uns nicht vergehen wollte, und die Tage des Müßiggang lediglich durch Frühstück-, Mittag- und Abendessen unterbrochen wurden. Im Waldviertel fand ich einen Ort und eine Gaststätte, die diese Gefühle der Kindheit wieder Gegenwart werden ließen. Der Ort heißt Drosendorf, befindet sich unweit des Stiftes Geras an der Grenze zu Tschechien, und das Hotel nennt sich „Das goldene Lamm“, ist aber unter dem Namen „Failler“ für seine wunderbare gutbürgerliche Küche weit über die Ortsgrenzen bekannt. Bereits um die Jahrhundertwende reisten bürgerliche Familien (mit der neu eröffneten Bahn)auf der Flucht vor Staub und Hitze Wiens in das kleine von einer mittelalterlichen Stadtmauer umgebenen pittoresken Städtchen und genossen im Schatten des an der Thaya gelegenen Waldbades ihren endlos währenden Sommerabends flanierte man auf der Promenade entlang der Stadtmauer, um sich danach im lichtdurchfluteten Gartensalon des Failler ,dessen Mitte ein goldgerahmter Spiegel bildete, zum Abendessen einzufinden. Heute darf ich den herrlichen Blick von der hoch über den weiten Feldern und Wäldern des Thayatales gelegenen Terrasse des auf eine 300 Jahre alte Tradition zurückblickenden Hotels genießen. Das bis vor 10 Jahren von Hannes Failler und seiner Schwester Elisabeth di Giorgio geführte war nicht zuletzt wegen ihrer Kochkünste bei Freunden der böhmisch-österreichischen Küche äußerst beliebt. Und diese Tradition wird vom neuen Eigentümer, dem jungen ambitionierten Wirt Dominik Brodnar, bravourös weitergeführt. ich kann von der Speisekarte, die von Rehschnitzel über Lammhufte bis zum Schweinsbraten mit Waldviertler Knödel wahre Köstlichkeiten bietet, insbesondere den Karpfen aufs Beste empfehlen. Jedes Mal ist auch wieder der Nachtisch, eine auf der Zunge vergehende Griesflammerie, unschlagbar. Das Hotel, die Gasträume und Zimmer lassen einem eine wundersame Zeitreise in die „heile Welt“ des „Hofrat Geiger Österreichs“ antreten. So atmet die Einrichtung und die Bar die Atmosphäre der 50er und 60er Jahre. Cocktailabende reanimieren die feuchtfröhlich ausgelassene Stimmung jener Zeit. Bei schlechtem Wetter kann man sich in die historischen Gasträume des Hauses zurückziehen und sich mit einem der hervorragenden Bücher der in den Gängen des Hotels platzierten riesigen Bibliothek die Zeit vertreiben. Es finden sich dabei passend Werke von Adalbert Stifters “Der Nachsommer“ bis zu Thomas Manns „Der Zauberberg“.
Das Gasthaus beherbergt seit 1920 ein Kino. Ein Klavier erinnert an die goldenen Zeiten der Stummfilmaera. Auch hier steht Drosendorf gegen den Zeitgeist, das Landkino lebt, wieder stehen Tische und Sessel im Saal, während der von einem Filmclub organisierten Aufführungen kann gegessen und getrunken werden, nur rauchen kann man nicht mehr. Sogar ein Filmball wird jährlich organisiert, wohnen auch berühmte Regisseure wie Ulrich Seidl im Ort oder Michael Haneke um die Ecke. Im Ort gibt es auch einen Jazzclub, der exzellente Musiker zu Jamsessions einlädt. Ein kleiner Eissalon gegenüber dem. historischen Rathaus und die romantische Schlosspension des Grafen Hoyos ergänzen das Angebot des Ortes. Als ich in der Failler’schen Bibliothek Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.“ entdecke, weiß ich, dass ich den richtigen Ort für die Sommerfrische gefunden habe.