Kann man das Schweigen hörbar machen?

“Rechnitz (Der Würgeengel)” – Schuld, Verdrängung und eine eindringliche Inszenierung am Landestheater.
Bregenz Mit der Premiere von “Rechnitz (Der Würgeengel)” am Samstagabend im Vorarlberger Landestheater hat Regisseurin Bérénice Hebenstreit eine Inszenierung vorgelegt, die den komplexen Text von Elfriede Jelinek respektiert und zugleich lebendig werden lässt. Jelineks Stück knüpft an den Dokumentarfilm “Totschweigen” (1994) von Margareta Heinrich und dem aus Bregenz stammenden Eduard Erne an, der das Kreuzstadl-Massaker in Rechnitz 1945 aufarbeitet. In der Nacht vom 24. auf den 25. März wurden dort rund 180 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter von einer Gruppe von Nazis und Gästen einer Gesellschaft ermordet – ein Verbrechen, dessen genaue Umstände lange unaufgeklärt blieben. Der Film dokumentiert eindrücklich, wie dieses Massaker in der lokalen Erinnerung verdrängt oder verschwiegen wurde – ein Mechanismus des Vergessens, den Jelinek in ihrem Stück sprachlich seziert und radikal dekonstruiert.

Jelineks Text thematisiert weniger das historische Ereignis als das kollektive Schweigen danach. In kryptischen Monologen, die aufeinanderprallen, wird der zähe Kampf mit der verdrängten Schuld sichtbar. Hebenstreits Inszenierung nähert sich dem Thema ohne didaktischen Ballast und verlässt sich auf die Wucht von Atmosphäre und Musik.

Die Produktion überzeugt vor allem dadurch, dass die Regie die formale Strenge und den sprachlichen Anspruch des Stücks konsequent beibehält und gleichzeitig für eine dynamische Umsetzung sorgt. So bleibt der Fokus stets auf dem dunklen Kern des Geschehens, ohne dass das Publikum von der Textfülle erschlagen wird.

Jelinkes Konzept, auf eine konventionelle Handlung zu verzichten, stellt jede Inszenierung vor Herausforderungen. Den chorischen Monologen, Fragmenten und Überlagerungen des Textes begegnet Hebenstreit mit einer fließenden Szenenfolge, die nie zur bloßen Rezitation erstarrt. An einigen Stellen setzt die Regisseurin gezielte Aktualisierungen: So wird eine Passage über Kunst pointiert ergänzt durch die Anspielung auf die Banane, die der Krypto-Unternehmer Justin Sun für knapp 6 Millionen Euro ersteigert hat. Weniger subtil ist dagegen das Wortspiel „Alles Weidel“ statt „Alles Walzer“. Dieses Bonmot sorgt zwar für ein kurzes Schmunzeln, bleibt aber im Vergleich zu anderen Regieeinfällen eher eindimensional.

Eindrucksvoll bleibt das Bild der Schauspielerinnen und Schauspieler, die als Chor der Boten mit brennenden Fackeln auftreten – eine ebenso dichte wie symbolträchtige Szene, die das Thema von Schuld, Verdrängung und Vergessen eindrucksvoll verdichtet. Das karge Bühnen- und Lichtdesign von Mira König verstärkt diesen Eindruck und gibt den Sprachfragmenten den nötigen Raum.

Das Ensemble leistet ganze Arbeit. Vor allem Vivienne Causemann und Rebecca Hammermüller zeichnen den Wechsel zwischen Zynismus, gespielter Unschuld und leiser Verzweiflung mit feinen Nuancen nach. Auch Nurettin Kalfa, David Kopp und Anna Rot gelingt es, die Sprachfragmente in ein organisches Spiel zu überführen, ohne sich im Pathos zu verlieren. Hinzu kommt die kluge musikalische Dramaturgie von Michael Isenberg. Der dritte Satz aus Gustav Mahlers Erster Symphonie zieht sich wie ein roter Faden durch den Abend – zunächst aus dem Off, dann als instrumentale Live-Interpretation der Schauspieler auf der Bühne und schließlich gesungen. Neben Mahler bezieht er weitere Werke ein – von Bachs Air über Scelsis Quattro Pezzi su una nota sola bis hin zu Wadsworths Beati Quorum Remissae und Paradisis Toccata – und schafft so eine vielschichtige Verbindung zwischen emotionalen und historischen Ebenen.

Der Premierenabend endete mit lang anhaltendem Applaus, der nicht nur dem Ensemble, sondern auch der Regie und dem Kreativteam galt. Bérénice Hebenstreit gelingt es, Jelineks Text stimmig auf die Bühne zu bringen und gleichzeitig die beklemmende Dimension, die das Stück aus seiner realen historischen Grundlage bezieht, zu erhalten. “Rechnitz (Der Würgeengel)” ist ein nicht leichtes, aber intensives Theatererlebnis, das nachwirkt – nicht zuletzt, weil es das Publikum mit den offenen Fragen von Verantwortung, Erinnerung und kollektiver Aufarbeitung konfrontiert.
