Im freien Fall durch Bruckners Siebte

Kultur / 18.11.2025 • 13:32 Uhr
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Das Stegreif Orchester entfachte im Montforthaus Bruckner 7. Sinfonie neu. Sarah Mistura

Das Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.

Feldkirch Die Montforter Zwischentöne boten am Sonntagabend ein Konzertereignis, an dem ein vertrauter Name in einem neuen Licht erschien. Ein lange bekanntes Werk konnte aus einem anderen Winkel betrachtet werden und dabei ungeahnte Räume eröffnen. So verhielt es sich im Montforthaus Feldkirch, als das Stegreif Orchester mit seinem Projekt „freebruckner” zu Gast war. Die dreißig Musikerinnen und Musiker wagten sich an eine Rekonstruktion von Anton Bruckners Trauermusik des zentralen Adagios aus seiner 7. Sinfonie. Dabei suchten sie nicht die Befreiung des Komponisten von vermeintlicher Schwere, sondern einen freien Zugang zu seiner Musik. Einen Zugang, der sie zu authentischem Musizieren führt und dem Publikum eine unmittelbare Begegnung mit Bruckners Klangwelt ermöglicht.

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Die Musikerinnen und Musiker wagten sich an eine Rekonstruktion von der Trauermusik des zentralen Adagios. Sarah Mistura

Bruckner wurde hier weder dekonstruiert noch zerlegt, sondern mit behutsamer Neugier betreten. Alistair Duncan, der kompositorische Kopf des Abends, arbeitet konstruktiv und zugleich sensibel öffnend. Er löst die musikalische Struktur nicht auf, sondern nutzt sie als tragfähigen Rahmen für improvisatorische Freiheit.

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Sarah MisturaDas Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.

Die musikalischen Farben traten besonders deutlich zutage, wenn sich die Musik nahtlos in eine Rekomposition öffnete, in der Bruckners Melodien in reharmonisierter Gestalt wieder auftauchten, umgeben von Saxophon, E-Gitarre, Drumset oder den Stimmen der Musiker. Improvisation spielte eine zentrale Rolle. Oft entstand der Eindruck eines leisen Gesprächs zwischen dem Original und der spontanen Gegenwart, ein Fragen und Antworten, das sich in der Beweglichkeit des Orchesters widerspiegelte. Da Stegreif ohne Dirigent auftritt und gänzlich ohne Noten auskommt, verteilt sich die Verantwortung für Übergänge, Tempi und Spannungsbögen auf viele Schultern. Diese Form des Musizierens verlangt ständige Wachheit, intensiven Blickkontakt und das unmittelbare Reagieren auf Signale der anderen. So entsteht ein Klangkörper, der sich nicht auf festen Bahnen bewegt, sondern im Moment lebt.

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Sarah MisturaDas Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.

Im Umgang mit dem Adagio der Siebten, jener berühmten Trauermusik, die über Jahrzehnte hinweg zu feierlichen Anlässen erklungen ist, zeigte sich die Ernsthaftigkeit dieses Projekts. In einer Zeit, in der die Nachrichten täglich von Verlust, Gewalt und Unsicherheit berichten, schuf Stegreif einen künstlerischen Raum, in dem Trauer überhaupt erst stattfinden durfte. Nicht als pathetische Geste, sondern als ruhige, ehrliche Einladung, sich im Spiegel der Musik mit eigenen Erfahrungen von Abschied, von verlorenen Möglichkeiten und von erloschenen Zukünften auseinanderzusetzen.

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Sarah MisturaDas Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.

Dieser Ansatz, Musik als Begegnung zu verstehen, zeigte sich auch in der räumlichen Gestaltung. Konzertsaal, Ränge und Bühnenraum verschmolzen zu einem gemeinsamen Feld der Wahrnehmung. Improvisation, Bewegung und sinfonische Kraft verbanden sich zu einer performativen Intensität. Die Grenzen zwischen Besuchenden und Ausführenden lösten sich nahezu auf, als hätte Bruckners große sinfonische Geste ein kammermusikalisches Herz entdeckt.

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Sarah MisturaDas Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.

So entstand ein Abend von bemerkenswerter Unmittelbarkeit, an dem Bruckners Musik weder modernisiert noch verhüllt wurde, sondern in einen lebendigen Dialog mit der Gegenwart trat. Es gelang Stegreif, die Virtuosität des Komponisten, seine Nähe zur Improvisation an der Orgel und seine große Architektur zusammenzuführen und zugleich jene Freiheit zu eröffnen, die entsteht, wenn man sich mutig in den Moment wagt. „freebruckner” erwies sich als bewegende, kluge und zutiefst menschliche Annäherung an einen Klassiker der Romantik und zeigte, wie fruchtbar es sein kann, wenn Tradition und Gegenwart einander offen begegnen.

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Sarah MisturaDas Berliner Stegreif Orchester mit »freebruckner« im Montforthaus Feldkirch.