Ist Solidarität eine Einbahnstraße?

Leserbriefe / 13.06.2024 • 18:48 Uhr

Am 7. 10. 2023 wurden in Israel 1200 Menschen auf bestialische Weise umgebracht. Die weltweite Reaktion war ein ohrenbetäubendes Schweigen. Es schwiegen die Feministinnen zu den Massenvergewaltigungen. Es schwiegen die progressiven Akademien und Kunstszenen zu der grausamen Ermordung. Es schwiegen die Friedensaktivisten und Antirassisten zur Bestialität des Pogroms. Die politisch korrekten Moralisten, die bei jeder Minderheitendiskriminierung aufschreien, verhöhnten die Opfer und deren Familien durch judenfeindliche Täter-Opfer-Umkehrungen. Die Ja-aber-Rhetorik bis hinauf zur UN-Ebene reproduzierte unter dem Schlagwort „Kontextualisierung“ das alte antisemitische Argument, die Juden seien an ihrem Unglück selber schuld. Verstand, Anstand und Mitgefühl wurden zugunsten ideologischer Verblendung und eines antiisraelischen Narrativs aufgegeben. Nicht nur in Israel, sondern weltweit kam es in jüdischen Gemeinden mit Wucht zu einer Retraumatisierung und der bitteren Erkenntnis, wie einsam sie trotz aller floskelhaften Nie-wieder-Beteuerungen der Politiker aller Parteien waren und sind. In Anlehnung an ein Zitat von Niemöller drückte es ein junger, progressiver Jude in den sozialen Medien so aus: Sie attackierten Lesben und Schwule. Ich stand dagegen auf. Sie attackierten die schwarze Gesellschaft. Ich stand dagegen auf. Sie attackierten die Migranten. Ich stand dagegen auf. Dann attackierten sie mich, aber ich stand alleine da, denn ich bin jüdisch.

Dr. Wolfgang Hämmerle, Lustenau