Leserbrief: Wer ist Ukrainer?

Putin spricht der Ukraine eine staatliche Identität ab. Die beiden Länder sind geschichtlich seit einem Jahrtausend verzahnt – wie Österreich mit Deutschland –, wobei die erste Staatsgründung in Kiew lag. Nationalbewusstsein entwickelt sich schrittweise, es kann manipuliert oder schlimmstenfalls eingeprügelt werden. Unter traumatischen Erlebnissen kann es sich jedoch kollektiv umpolen. Die ukrainische Identität konnte in den toleranten altösterreichischen Kronländern aufkeimen, während die Ukrainer von den Zaren und Sowjets russifiziert und gezielt Russen angesiedelt wurden. Trotz eines unbestreitbaren, aber sehr verschwommenen Grabens stimmten alle Provinzen deutlich für die Unabhängigkeit. Die ethnische Zuordnung weicht vom Sprachgebrauch jedoch vielfach ab, Millionen Staatsbürger schalten je nach Situation sprachlich auf Knopfdruck um. Russisch war regional dominant, von Staatsseite wird Ukrainisch favorisiert. Im Wahlverhalten haben „ukrainische Ukrainer“ wiederholt „russische“ Präsidenten ermöglicht, siehe Selenskyj. Durch Putins Aggression hat sich alles radikal gewandelt, weg vom russischen Sprachgebrauch. Unabhängig davon hat eine wachsende Zivilgesellschaft längst Geschmack an europäischen Freiheiten gefunden. Hingegen sind die Millionen in Russland lebenden Ukrainer staatskonform indoktriniert und haben mit ihren Verwandten im Heimatland meist unwiederbringlich gebrochen. Ukrainer ist heute vorrangig derjenige, der einer sein will – fast alle. Putin hat die Streitfrage ungewollt gelöst und kann jetzt erst recht weder „moralische“ noch völkerrechtliche Ansprüche geltend machen.
Gerald Grahammer, Lustenau