Die Prioritäten ändern sich
Herbstzeit ist. Wie jedes Jahr die Früchte reifen und die Blätter fallen, so treffen sich jedes Jahr soignierte Herren mit etwas ruppigeren Gesellen, sitzen sich, versorgt mit Leberstreichwurstbrötchen und Kaffee stunden-, tage-, ja nächtelang gegenüber und streiten darüber, was die einen den anderen für ihre Leistungen bezahlen werden.
Das ganze passiert mit großem Brimborium, mit Säbelrasseln auf beiden Seiten und endet doch jedes Mal damit, dass beide nicht bekommen, was sie gefordert haben. Es ist die Zeit der Kollektivvertragsverhandlungen, die die Unternehmer ordentlich Geld kosten, das bei den Arbeitnehmern nicht in voller Höhe ankommt. Weil nämlich der Staat auch noch sein Scherflein abzwackt und sich über die „kalte Progression“ freut.
Vorarlbergs Gewerkschaftsboss Norbert Loacker hat deshalb schon in der Diskussion um eine Steuerreform nicht nur „mehr netto vom Brutto“ gefordert, sondern auch angedeutet, dass sich selbst eingespielte Rituale ändern können. Er könne sich vorstellen, dass man nicht mit den Unternehmern streite, sondern gemeinsam die Regierung zur Rede stelle. Das ist ein Beispiel, wie sich Prioritäten ändern können. Nun hat die Regierung eine kurze Verschnaufpause, weil sie eine Steuersenkung in Aussicht gestellt hat.
Im Übrigen stellte sich heraus, dass viele Arbeitnehmer im Laufe der Jahre ihre vorrangigen Ziele getauscht haben. Statt auf den Cent zu warten, kann sich ein großer Teil der Arbeitnehmer vorstellen, statt mehr Lohn mehr Freizeit zu beziehen. Ihnen ist offensichtlich wichtiger, mehr Zeit mit der Familie zu verbringen oder einfach auszuspannen.
Die sogenannte Work-Life-Balance, von vielen Unternehmen bei der Suche nach Fachkräften als Trumpfkarte gezückt, ist nicht nur ein Trend, sondern entspricht den Wünschen vieler Menschen, für die Arbeit nicht mehr der einzige Lebensinhalt ist. Sie wollen nicht mehr Überstunden machen, um ein größeres Haus als der Nachbar zu bauen, es ist ihnen egal, ob der Bruder das größere Auto fährt.
Es kann aber auch sein, dass ihnen garantierte Freizeit lieber ist als eine Lohnerhöhung, die diesen Namen nicht verdient. Die einfach nicht mehr daran glauben, dass irgendwann mehr Geld auf ihr Konto wandert. Und Unternehmen, deren Mitarbeiter besonders oft die Freizeitoption wählen, sollten sich Gedanken über die Arbeitsverhältnisse machen.
andreas.scalet@vorarlbergernachrichten.at, 05572/501-862
Kommentar