Russ-Preis für das gelebte Miteinander

Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen ist seit über 35 Jahren ein Herzensanliegen von Judith Bechtold und Ingrid Rüscher. Sie werden mit dem Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis und -Ring ausgezeichnet.
Andelsbuch, Lochau “Es war einfach nicht vorgesehen, dass Stephanie in Andelsbuch in die Schule geht”, erinnert sich Ingrid Rüscher zurück. Sie schaute sich die Sonderschule in Egg an, auch das Schulheim in Mäder. Doch keine der angebotenen Möglichkeiten wurde den Bedürfnissen ihrer Tochter gerecht. Parallel stand Judith Bechtold, ebenfalls Mutter eines Kindes mit Beeinträchtigung, in Lochau vor ähnlichen Herausforderungen. Ihre Tochter Eva wäre alt genug für die Kinderbetreuung gewesen. Doch inklusive Angebote gab es nicht. So entstand zwischen 1988 und 1989 der nunmehrige Verein Integration Vorarlberg.
Der Wunsch war einfach: Zugehörigkeit, Inklusion. Im gewohnten sozialen Umfeld aufwachsen dürfen, in der Gesellschaft und im Wohnort verwurzelt sein, tragfähige soziale Kontakte aufbauen können. Für alle Kinder, ungeachtet der Form der Beeinträchtigung. “Kinder lernen von Kindern”, erinnert Rüscher. “Das ist das Prinzip des sozialen Lebens: Dass die, die es können, die anderen unterstützen”, ergänzt Bechtold. Vorarlberg war hier alles andere als ein Vorreiter. Da gab es schon Integrationsklassen in Burgenland und der Steiermark, im tirolerischen Reutte öffnete sich die Sonderschule für den Regelbetrieb. Bechtold und Rüscher wurden zu Pionierinnen, nicht nur für die eigenen Kinder. Sie suchten und fanden Wegbegleiter im Bildungsbereich, die offen für ihre Ideen und Vorstellungen waren und Inklusion wagen wollten. Gemeinsam entwickelte man Konzepte, versuchte Bedenken auszuräumen und Skeptiker zu überzeugen, stand selbst als Unterstützung für Lehrkräfte und Eltern zur Verfügung. Damit öffneten sie Türen über die eigene Betroffenheit hinaus, die für weitere Kinder und deren Familien offen blieben.

Weiterentwicklung
Dass dies notwendig war, liegt auch in der Geschichte. Unter dem nationalsozialistischen Regime war es lebensgefährlich, Beeinträchtigungen zu haben. Eine Generation verschwand, die Eltern der neuen Generation verspürte den Wunsch nach Schutzräumen, die auch geschaffen wurden. “Wir verstehen Inklusion als Weiterentwicklung, nicht als Gegenbewegung”, betont Bechtold. Statt vor der Gesellschaft geschützt zu werden, wollen sie ihre Kinder als sichtbaren Teil der Gesellschaft akzeptiert wissen. Durch die gemeinsame Lebenserfahrung wächst Verständnis, Empathie und damit die Gesamtgesellschaft, verweisen die beiden auf zahlreiche Studien.

Inklusion nach der Schule
Mit dem Alter der betroffenen Kinder wechselte auch der Fokus der Eltern. Zuerst ging es um Spielgruppen, Kindergärten, dann um den Besuch der Regelschulen, dann die Schaffung von Arbeitsplätzen, die mit der Begleitung von Mentoren sinnvollen Tätigkeiten erlauben. Gemeinsam mit dem ifs entstanden die SPAGAT-Arbeitsplätze, inzwischen sind es 400. “Auf dem ganzen Weg ist immer klar geworden: Der Mittelpunkt ist das Kind, der Mensch”, betont Rüscher. “Und zu überlegen, was braucht er, was kann er, und wie bringen wir das zusammen mit der Situation, die vor Ort ist.”

Dies endet nicht bei der Schule und dem Beruf, wie auch der Einsatz von Bechtold und Rüscher nicht endete. Mit dem Ifs wurde die Integrative Wochenstruktur geschaffen, die auch Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf die Teilhabe an der Gesellschaft ermöglicht. Große Themen sind nun Ideen wie persönliche Assistenz und persönliche Budgets, mit denen sich die Menschen mit Beeinträchtigung individuell ihre Unterstützungsleistungen zusammenstellen könnten – weg von Schubladenangeboten hin zur Individualisierung. Dies würde auch das selbstbestimmte Wohnen und Leben erleichtern. Sie sind sich sicher, dass ungeteilte Inklusion umsetzbar ist, solange jeder bereit ist, auf seine Weise einen Beitrag zu leisten. Ihr Beitrag wird heuer mit dem Dr.-Toni-und-Rosa-Russ-Preis und -Ring gewürdigt.

Integration Vorarlberg
Bei der Vereinsgründung 1989 sprach man noch von Integration. Einerseits, weil der Begriff noch nicht von der Zuwanderungsthematik vereinnahmt war. Andererseits, weil Inklusion sich noch als Begriff etablieren musste. Menschen mit Beeinträchtigungen haben keine besonderen Bedürfnisse, so die Überzeugung bei Integration Vorarlberg: Neben den physischen Bedürfnissen wie Essen und Obdach haben sie auch sozial-emotionale Bedürfnisse wie Geborgenheit, tragfähige Beziehungen und soziale Anerkennung, Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit. Und Inklusion muss für alle möglich sein, es gebe keine “Inklusion mit Augenmaß”. Seit 2008 ist die UN-Behindertenrechtskonvention die Leitlinie, die ebenfalls die volle Inklusion in den Regelschulbetrieb vorsieht.
Integration Vorarlberg versteht sich vor allem als Elternverein. Sein Fokus liegt darauf, Eltern bei Fragen der Inklusion ihrer Kinder in allen Lebensaltern zu unterstützen, zu beraten und zu begleiten – vom Kleinkind bis zum Erwachsenen. Dazu gehören individuelle Beratungen, aber auch Gelegenheiten des Informationsaustausches wie Familien-Cafés und inklusive Feiern.
Für seine Aktivitäten und Initiativen wurde der Elternverein 2012 mit dem Kinderrechtepreis und 2013 gemeinsam mit AG Down Syndrom Vorarlberg mit dem Kinderschutzpreis ausgezeichnet.
Webseite: https://www.integration-vorarlberg.at/

Zu den Personen
JUDITH BECHTOLD
zählt zu den Gründungsmitgliedern von Integration Vorarlberg und ist bis heute an vorderster Linie aktiv. Sie engagiert sich gemeinsam mit dem Verein „Gemeinsam Bauen und Wohnen“ auch für inklusive Wohnlösungen
ALTER 69
WOHNORT Lochau
BERUF Architektin i.R., engagiert
HOBBYS Lesen, Wandern, und ist gerne in Gesellschaft
INGRID RÜSCHER
ist seit der Gründung 1989 die Vizeobfrau von Integration Vorarlberg und ist Mitiniatorin des Arbeitsplatzprojekts SPAGAT.
ALTER 66 Jahre
WOHNORT Andelsbuch
LAUFBAHN Ausgebildete Pädagogin für hauswirtschaftliche Berufsschulen; mehrjährige Lehrtätigkeit, bevor sie in die Arztpraxis ihres Mannes wechselte. Medizinische Weiterbildung mit Schwerpunkt Ernährungsberatung.
HOBBYS Skifahren, Langlaufen, Radfahren