Kommentar: Unterhaltung, die verändern will
Jamie Miller, der 13-Jährige aus Liverpool, der seine Mitschülerin Katie ersticht und die Erkundung, wie es zu diesem schrecklichen Mord kommen konnte, stehen im Mittelpunkt der britischen Netflix-Serie „Adolescence“. Diese sorgt in den letzten Wochen nicht nur in Großbritannien, sondern weltweit für Debatten um jugendliche Gewalttäter. Ruby Tan, ein 22-jähriges philippinisches Au-Pair-Mädchen, das bei einer reichen, vermeintlich perfekten Familie in Kopenhagen arbeitet und ermordet wird, ist die zentrale Figur in der neuen dänischen Serie „Das Reservat“, die jetzt ebenfalls auf Netflix veröffentlich wurde. Es ist eine Erzählung von Machtmissbrauch, Rassismus und der systematischen Ausbeutung von Frauen.
In beiden Formaten geht es um einen schonungslosen Blick auf unsere Gesellschaften, in denen Machtverhältnisse nicht in Balance sind und Männer, gerade auch heranwachsende Burschen, ungesunde Bilder von Männlichkeit ausleben – weil man ihnen diese vorlebt oder sie sich in problematischen Social-Media-Welten verlieren. Dass Gesellschaftsdebatten von Serien angestoßen werden, ist eine Erscheinung unserer Zeit. Wenn viele Menschen sich heute lieber vor den Streamingdiensten ihres Vertrauens versammeln, als mit anderen in Vereinen oder Parteilokalen zu diskutieren, können auch Unterhaltungsprogramme einen Veränderungsanspruch formulieren.
Aufklärung in Schulen
„Adolescence“ sorgt derzeit in der britischen Politik für eine breite Debatte über Frauenhass unter Jugendlichen, Premierminister Keir Starmer möchte die Serie in ganz Großbritannien kostenlos zur Verfügung stellen. Das Bildungsministerium hat einen Leitfaden für Lehrkräfte herausgegeben, der helfen soll, die Anzeichen dafür zu erkennen, dass Schüler sich mit frauenfeindlichen Inhalten beschäftigen, und der Ratschläge zum Schutz der Jugendlichen enthält. Schulkinder sollen außerdem lernen, wie sie mit schwierigen Emotionen umgehen, wie sie Frauenfeindlichkeit und problematischen Bildern von Männlichkeit entgegentreten können. Offensichtlich hat erst eine Serie, die alle sehen, geholfen, konkrete Maßnahmen gegen ein schon länger existierendes gesellschaftliches Problem umzusetzen.
Dass gerade junge Männer bei ihrer Identitätssuche falsch abbiegen, ist kein neues Phänomen, es wird nur durch Social Media weiter befeuert. Alte Bilder von Männlichkeit kann man nur dann überwinden, wenn man schon kleinen Buben und Mädchen vorlebt, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Dass freundschaftliche Beziehungen zwischen Frauen und Männern normal sind. Und dass man Stresssituationen nicht mit Herumbrüllen oder Schlagen löst.
Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und ist Redaktionsleiterin von ORF.at.
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