Jung, allein und traumatisiert

Politik / 25.02.2015 • 22:16 Uhr
Nach acht Monaten Flucht und fast so lange in Traiskirchen, ist Hussein in Feldkirch angekommen. Er will unerkannt bleiben. Foto: VN/Paulitsch
Nach acht Monaten Flucht und fast so lange in Traiskirchen, ist Hussein in Feldkirch angekommen. Er will unerkannt bleiben. Foto: VN/Paulitsch

Hussein (16) hat vor 16 Monaten seine Familie in Pakistan verlassen. Nun ist er in Feldkirch.

FELDKIRCH. 10. Jänner 2013, Quetta, Pakistan. Auch an jenem Donnerstag, mit 18 Grad Celsius der wärmste Tag der Woche, ist die Billardhalle der 900.000-Einwohner-Stadt gut besucht. Die Kugel rollt, ein Tag wie jeder andere. Plötzlich ein Knall. Scheiben zerbersten, Schreie gellen, Panik greift um sich. Ein Selbstmordattentäter hat sich in die Luft gesprengt. Die Menschen stürmen hinaus, wenige Minuten später trifft die Rettung ein. Kurz darauf die nächste Detonation. Eine Autobombe reißt weitere Besucher in den Tod, darunter einige Rettungskräfte. Das Dach der Billardhalle stürzt ein. Nicht alle haben es nach draußen geschafft. Rund 100 Tote und mehr als 200 Verletzte. Es ist der bis dahin blutigste Tag in der Geschichte Quettas und der Start in eine gewaltsame Zukunft. Zu dieser Zeit beschließt Husseins* Familie, ihren Sohn nach Europa zu schicken. In ein besseres Leben.

Unbegleitet und minderjährig

Zwei Jahre später. Hussein sitzt in einem kleinen Zimmer im Schulbrüderheim in Feldkirch. Er trägt eine schwarze Jacke, den Reißverschluss bis oben zugezogen. Ein grauer Schal umschlingt seinen Hals, die Haare mit Gel gebändigt: „Ich musste fliehen, als Schiit war es in Quetta zu gefährlich“, sagt der 16-Jährige mit ruhiger Stimme. Seine Augen allerdings huschen hin und her, als sei er ständig auf der Hut. Es ist eine ungewohnte Situation für den Jugendlichen. Bisher kannte er Interviews nur aus Verhören. Hussein ist einer von 70 Flüchtlingen, die ab dem 27. Jänner ins ehemalige Schulbrüderheim gebracht wurden, und gehört zu den 27 unbegleiteten Minderjährigen, die eigentlich in einer betreuten Wohngemeinschaft sein sollten. Sein Leben im Großquartier hat Hussein schnell erzählt: „Ich esse, schlafe und putze. Das ist mein Leben.“

Dass es die Flüchtlinge gerne anders hätten, berichtet Judith Schwald von der Caritas-Flüchtlingshilfe: „Eine Praktikantin unterrichtete eine Woche Deutsch. Die Bewohner konnten es kaum erwarten, jeder wartete in der Früh mit Block und Stift gespannt auf den Unterricht.“ Derzeit gibt es niemanden, der unterrichtet. Es müsste nicht einmal ein ausgebildeter Deutschlehrer sein: „Für den Anfang reichen schon die wichtigsten Phrasen, die Uhrzeit und das Alphabet.“ Schwald und ihre Mitarbeiter versuchen, den Menschen möglichst viel Alltag zu bieten. Die Bewohner verpflegen sich selbst, halten ihr Heim eigenhändig sauber. Manche haben Anschluss an umliegende Vereine gefunden, christliche Flüchtlinge sind in der Kirche aktiv.

Acht Monate auf der Flucht

Hussein selbst ist in erster Linie froh, hier zu sein: „Wenigstens kann ich raus. Nicht wie in Traiskirchen.“ Das niederösterreichische Auffanglager war seine erste Station in Österreich. Fast acht Monate verbrachte er mit Hunderten weiteren Asylwerbern auf engstem Raum. Genau so lange war er zuvor unterwegs.

Nach Monaten des Terrors schickt Husseins Familie ihren Sohn nach Europa. Die Eltern, die große Schwester und der kleine Bruder bleiben zu Hause. Schlepper bringen ihn und weitere Flüchtlinge mit Booten, Lkw, Pkw, per Zug und zu Fuß nach Europa. „Einige sind nach Dänemark, andere nach Holland. Ich wollte nach Österreich, dieses Land hat mir immer schon gut gefallen“, erzählt Hussein. Sein Weg führt ihn über den Iran, die Türkei, Griechenland und den Balkan schließlich nach Feldkirch. Hussein blickt aus dem Fenster auf die schneebedeckten Berge: „Feldkirch gefällt mir gut, die Menschen sind freundlich.“ Die Flucht nach Europa war nicht seine erste.

Hussein stammt aus Ghazni im Osten Afghanistans. Im Jahr vor dem Einmarsch der US-Truppen wurde es für Schiiten immer gefährlicher, auch danach besserte sich die Situation nicht. Die Familie floh. In Quetta war das Leben zunächst besser. Die Kinder gingen in die Schule, die Eltern auf den Markt. „Nach zehn Jahren kam der Krieg. Schiiten lebten immer gefährlicher“, beschreibt Hussein die Veränderung. „Die Stadt ist mittlerweile voller Ruinen.“ Seine Familie lebt noch. Ob es ihnen gut geht, kann der 16-Jährige allerdings nur sporadisch erfragen – falls die Telefonverbindung hält. „Sie haben kein Internet.“ Er denkt oft an seine Familie. Auch in diesem Moment. Husseins Stimme wird zittrig, aus seinen Augen spricht Trauer: „Natürlich vermisse ich sie.“ Schnell findet er wieder Fassung und erinnert sich, warum er hier ist: „Um meiner Familie zu helfen.“

Hussein hat genug über seine Vergangenheit erzählt. Er will lieber an die Zukunft denken: „Ich liebe die Schule. Ich würde so gerne lernen. Liebe Regierung. Bitte! Lasst mich Deutsch lernen.“ Dann hat er genug gesagt. Er steht auf und verlässt das Zimmer. Auf dem Gang trifft er einen Mitbewohner, der aussieht, als sei er erst zwölf Jahre alt. „Auf dem Papier ist er 16“, erklärt eine Betreuerin. Unbegleitet, minderjährig und schon als Kind geflüchtet. Wie Hussein. Und viele andere Flüchtlinge im ehemaligen Schulbrüderheim in Feldkirch.

*Name geändert