Wie lebt man in diesem Zwischenreich?
„Kultur ist kein Luxusgut, sondern Lebensmittel“, sagt der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach dem Konzert der Wiener Philharmoniker bei den Salzburger Festspielen vergangene Woche. Da hat er natürlich Recht, auch andere Politiker und Politikerinnen sprechen jetzt gerne über die ach so große Wichtigkeit von Kultur – und denken dabei wahrscheinlich oft auch an die wirtschaftliche Bedeutung des Kulturbetriebs.
Die Salzburger Festspiele haben etwa zu ihrem 100-jährigen Jubiläum dieses Jahr mit 30 Millionen Euro Einnahmen kalkuliert, durch das modifizierte Programm liegt man nun bei acht Millionen. Und die Festspiele sind auch ein wichtiger Faktor für Tourismus, Gastronomie und Handel in der Region, gerade in diesem Jahr der Pandemie. In einem Jahr, in dem jede Party ein Risiko darstellt und jede größere Kulturveranstaltung sich in einen Hochsicherheitsbereich verwandelt.
Ordnung und Loslassen
Wie lebt man in diesem Zwischenreich der Pandemie? Wenn einem die sogenannte „neue Normalität“ nicht normal erscheinen will und niemand genau sagen kann, wie lange die Ausnahmesituation noch anhält? Ein erfülltes Leben ist jedenfalls mehr als Ausbildung, Arbeit, Pflicht. Man kann wohl das Apollinische (Form, Ordnung) und das Dionysische (Rauschhaftigkeit, Schöpfungsdrang), die zwei gegensätzlichen Charakterzüge des Menschen, die Friedrich Nietzsche einst mit seinem Werk „Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“ zu populären Begrifflichkeiten machte, nicht voneinander trennen. Das ordnende Element gehört zum Leben, so wie auch das Loslassen, sich einfach treiben zu lassen.
Ein erfülltes Leben ist jedenfalls mehr als Ausbildung, Arbeit, Pflicht.
Die Politik fokussiert sich in der Corona-Krise auf gesundheits-, wirtschafts- und ordnungspolitische Maßnahmen. Was Leben sonst noch ausmacht, muss warten, 2022 ist ja auch noch Zeit dafür. Alle müssen derzeit mit ihren individuellen Bedürfnissen zurückstehen: Die Kinder, die Eltern, die arbeitslosen Menschen, die Selbständigen mit Geschäftseinbrüchen, die Jugendlichen, die älteren oder chronisch kranken Menschen, die Menschen in seelischer Not. Und alle sollten den anderen Raum für ihre jeweiligen Bedürfnisse zugestehen, denn alle Sorgen und Wünsche sind berechtigt. Die Interessenskonflikte zwischen jungen Leuten, die gerade den unfreisten Sommer ihres Lebens verbringen oder älteren Leuten, die wollen, das jetzt alle nur schön brav zu Hause sitzen, kann man nicht auflösen – aber vielleicht könnte man bei näherem Hinsehen doch etwas mehr Verständnis für die andere Gruppe aufbringen. Denn ohne gegenseitiges Verstehen für das Bedürfnis nach Ordnung, aber auch nach Loslassen, werden wir diese Pandemie nicht gemeinsam und gut durchstehen.
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