Rule Britannia
Das Zusammentreffen der Corona-Pandemie und der Protestwelle unter dem Motto „Black Lives Matter“ („schwarze Leben zählen“) hat zu neuen Varianten von „political correctness“ geführt. Teils mit spektakulären, teils aber auch skurrilen Ergebnissen: So hat sich die Fast-Food-Kette KFC („Kentucky Fried Chicken“) von ihrem seit 64 Jahren in den mehr als 20.000 Filialen hochgehaltenen Slogan verabschiedet, der behauptet, ihre frittierten Hühnerteile seien „finger lickin‘ good“ (so gut, dass man danach die Finger abschlecken möchte) – denn in Zeiten von Corona widerspreche solches Verhalten krass sämtlichen ärztlichen Empfehlungen. In Portland, Oregon, zerstörte eine Menschenmenge das Denkmal von George Washington, und das Museum für Naturgeschichte in New York beschloss, die Statue von Theodore Roosevelt, welche seit 80 Jahren vor den Stufen zum Museumseingang steht, zu entfernen. Grund: Der (offen rassistische) Ex-Präsident der Vereinigten Staaten (1901 – 1909), hoch zu Ross, wird flankiert von einem Native American („Indianer“) und einem Afroamerikaner.
Selbstverständlich macht die weltweite Sensibilisierung gegenüber der eigenen Geschichte auch vor Großbritannien nicht halt: Vor Kurzem hat trotz Covid19 wieder die Saison der seit 1941 in der Londoner „Royal Albert Hall“ abgehaltenen legendären Sommerkonzerte unter dem Titel „Proms“ begonnen. Und zugleich entbrannte ein heftiger Streit um das traditionelle Abschlusskonzert, der „Last Night of the Proms“, in welchem jeweils „Rule Britannia“, Edward Elgars „Pomp and Circumstance March Nr. 1″ („Land of Hope and Glory“) und William Blake’s Hymne „Jerusalem“ angestimmt wird, während das karnevalesk kostümierte Publikum in patriotischer Hochstimmung, Arme und Union-Jack-Flaggen schwenkend, mitsingt.
Das Ganze ist ein Missverständnis.
Wegen Covid-19 müssen die 9500 Sitz- und Stehplätze der riesigen Halle leer bleiben; die Konzerte werden aber wie jedes Jahr von der BBC live übertragen. Doch die BBC erwägt, an dieser „Last Night“ am 12. Sept, nur die Musik jener patriotischen Gesänge erklingen zu lassen – ohne Chor und vor allem ohne das übliche Mitsingen. Dies nicht etwa wegen der bekannten Tatsache, dass das (vor allem laute) Singen die Verbreitung der Covid-Partikel stark begünstigt – sondern wegen der unerwünschten historischen Assoziationen mit dem British Empire. Das hatte einen nationalen Aufschrei zur Folge – bis hin zu Morddrohungen gegen die (finnische) Gastdirigentin von „Last Night“, Dalia Stasevska, Unterstützerin von „Black Lives Matter“. Dabei ist das Ganze ein Missverständnis: Im Text dieser „inoffiziellen britischen Nationalhymne“ heißt es nicht etwa „Britannia rules the waves“ sondern „rule“ – also keine imperiale Überheblichkeit des 19. Jahrhunderts, sondern eine Aufforderung zur Konzentration auf maritime Stärken im Jahr 1740, als das Lied entstand. Laut Umfragen wären nur gerade acht Prozent der Briten dafür, auf den Text zur Musik zu verzichten. Für Premierminister Boris Johnson, der sich für diese Tradition kräftig ins Zeug legt, ist diese Kontroverse eine höchst willkommene Ablenkung für die vielen Blamagen der letzten Wochen.
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