Populärer Kanzler, unpopuläre Entscheidung
Die See ist äußerst unruhig, draußen tobt ein viraler Wintersturm. Deutschland und Frankreich verhängen den Lockdown als letzten Weg, die exponentiell anschwellende Welle irgendwie zu brechen. In der Schweiz hat wieder der Bund übernommen, die regionale Strategie der Kantone zeigte keine Wirkung. Sogar Liechtenstein hat seine Wirtshäuser bereits zusperren lassen (und gleichzeitig wirtschaftlichen Ausgleich für die Wirte angekündigt).
Und hier, auf der Insel der Seligen? Die Hauptnachrichten eröffnen mit dem Oberösterreichischen Landeshauptmann, der “Garagenpartys” zu unserem größten Problem erklärt. Wir wurschteln weiter dahin, mit drei verschiedenen Coronastatistiken. Das Coronatracing entgleitet immer mehr Bundesländern. Die Zahlen schnellen nach oben, steil nach oben. Anders: wir kennen – außer dem verhassten Lockdown – kein wirksames Gegenmittel.
Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP), der in der ersten Welle bei wesentlich niedrigeren Infektionszahlen permanent höchst alarmiert kommunizierte, hält sich seit Wochen deutlich im Hintergrund. Er war es, der nach dem Ischgler Warnschuss im März und April Europa zeigte, wie Lockdown geht, wie man die Infektionszahlen eindämmt. Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ließ im österreichischen Kanzleramt anrufen und sich Unterlagen schicken. Bayern kopierte Österreichs Maßnahmen, mit etwa zwei Wochen Verzögerung. Und mit Erfolg.
Nun sieht das ganz anders aus. Deutschland hält die Lage nicht nur für ernst (das tut unser Bundeskanzler ja auch) – sondern verhängt schon bei der im Vergleich mit Österreich halben Inzidenzzahl einen teilweisen Shutdown.
Nun ist es plötzlich nicht mehr Sebastian Kurz, der beherzt agiert. Jetzt handelt die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und gibt den Takt in Europa vor. Viele hatten sie schon abgeschrieben, auch Kurz machte bei Berlin-Besuchen schon ihren potenziellen Nachfolgern Aufwartungen.
Dass Angela Merkel nun doch das Vorbild für Sebastian Kurz sein soll, das passt freilich nicht in die Denkwelt unseres Bundeskanzlers – und schon gar nicht ins Polit-Marketing-Konzept seines engsten Umfelds. Doch das ist spätestens jetzt völlig egal. Keine Meinungsumfrage wird dem Bundeskanzler vermitteln, dass er einen Lockdown verhängen soll. Keiner wird ihm auf die Schulter klopfen. Die Entscheidung kann ihm auch nicht der Gesundheitsminister abnehmen. Es ist eine wichtige Entscheidung, seine Entscheidung. Kurz ist Bundeskanzler, ihm vertrauen die Menschen.
Der Staat muss in dieser höchst unsicheren Krisensituation Sicherheit liefern, wo er kann. Finanziell müssen großzügige Hilfsprogramme für betroffene Menschen, Unternehmen und Branchen neu aufgelegt werden – so wie auch Deutschland Betriebe und Vereine mit bis zu 75 Prozent ihrer Ausfälle unterstützen wird.
Merkel bittet mit Blick auf die Gesundheit, aber auch die Arbeit der Menschen um Solidarität. Sie hätte auch “Wir schaffen das” sagen können.
Wir müssen es als Gesellschaft ertragen, dass unsere Freiheiten vorübergehend stark eingeschränkt werden. Mit schuld daran sind übrigens auch jene, die ihre höchstpersönlichen Rechte schon beim Tragen eines Stofffetzens vor Mund und Nase unzumutbar zertrümmert sahen und die Maßnahmen missachtet haben.
Corona trifft nicht nur die Starken unserer Gesellschaft, die nach drei Wochen total immun triumphieren, es sei nur leicht stärker als die Grippe gewesen. Corona trifft auch die Schwächsten. In Vorarlberger Behinderteneinrichtungen gibt es aktuell 40 Covidfälle.
Gerold Riedmann ist Chefredakteur der Vorarlberger Nachrichten.
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