Julia Ortner

Kommentar

Julia Ortner

Eine Frage der Menschenwürde

Politik / 21.12.2020 • 22:43 Uhr

Es gibt Sätze, die sich jetzt in unser Gedächtnis einbrennen sollten. Wie jene von Walter Hasibeder, erfahrener Intensivmediziner im St.-Vinzenz-Spital in Zams: „Die meisten Patienten, die Sie hier sehen, sind aktiv in ihrem Leben, versorgen sich nicht nur selber, sie machen Hausarbeit, schwere Arbeit, holzen und gehen noch am Berg, sie sind einfach gut beisammen. Diese Leute haben teilweise unser Studium bezahlt mit ihren Steuern, und es wäre einfach unfair zu sagen, es trifft eh nur ältere und vorerkrankte Patienten – das ist einfach menschenunwürdig, das ist eine Sauerei.“ Der Primar an dem Tiroler Ordensspital kämpft gemeinsam mit seinen Kolleginnen und Kollegen seit März gegen das heimtückische Coronavirus, Anfang Dezember hat meine Kollegin Eva Maria Kaiser für den ORF-Report seine Intensivstation besucht.

Die Bilder dieser Reportage bedrücken mich noch immer, die Worte des Arztes kann ich, will ich nicht vergessen. Denn obwohl auch immer wieder jüngere Menschen sehr schwer erkranken, beatmet werden müssen und mit Langzeitschäden durch Corona ringen, spiegelt sich in der Analyse des Intensivmediziners die Haltung mancher wider, die im Verlauf der Pandemie immer mehr zugenommen hat: Wenn jetzt jeden Tag mehr als hundert Menschen an Covid-19 versterben, dann sind es ohnehin vor allem die Alten, Schwachen, Kranken; dann kommt der Tod etwas früher als ohne das Virus, so ist das eben. Eine Form des darwinistischen Denkens, vor der einem nur grauen kann.

Die Last des Verzichts

Der Schutz der sogenannten Risikogruppen ist wohl manchen schon lästig geworden. Das eigene Leben wegen der gebotenen Achtsamkeit anderen gegenüber weiterhin einschränken? Ja, so macht man das in einer zivilisierten Gesellschaft, die nicht nur von Jugendidealen und Leistungsstärke zusammengehalten wird. „Was einen Wert hat, hat auch einen Preis. Der Mensch aber hat keinen Wert, er hat Würde“, formulierte der Aufklärer Immanuel Kant einst. Eine Würde ungeachtet von Alter, gesellschaftlichem Status, Herkunft, möchte man hinzufügen.

Natürlich haben jetzt auch junge Leute große Belastungen zu tragen: Die Ungewissheit über die eigene Zukunft, die verlorene Leichtigkeit der Jugend. Und dennoch, selbst wenn sie jetzt ein Jahr verlieren, können sie das noch irgendwie aufholen – dabei brauchen sie jede mögliche Unterstützung. Die älteren Menschen haben allerdings oft nicht mehr die Zeit, für sie sind die Augenblicke kostbar. Für manche könnte es auch das letzte Weihnachtsfest sein. Umso schwieriger für jene, die dieses Jahr die Feiertage vielleicht alleine ohne Familie verbringen müssen, um sich zu schützen und geschützt zu werden.

Uns allen frohe – und achtsame – Weihnachtstage.

„Der Schutz der so­genannten Risikogruppen ist wohl manchen schon lästig geworden.“

Julia Ortner

julia.ortner@vn.at

Julia Ortner ist Journalistin mit Vorarlberger Wurzeln, lebt in Wien und arbeitet für den ORF-Report.