Wolfgang Burtscher

Kommentar

Wolfgang Burtscher

Ein garstig Lied

Politik / 31.05.2021 • 09:30 Uhr / 4 Minuten Lesezeit

„Ein garstig Lied. Pfui, ein politisch Lied“, singen die Studenten in Auerbachs Keller in Goethes Faust. Mehr als 200 Jahre später ist das Lied in Österreich aktueller denn je. Eigentlich hätten wir die größte Krise seit 1945 zu bewältigen. Niemand weiß, woher wir die Milliarden hernehmen werden, um die Ausgaben der Pandemie zurückzuzahlen. Aber statt einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Regierung, Opposition, Ländern und Sozialpartnern liefert die Bundespolitik ein Trauerspiel ersten Ranges. Wenn ÖVP-Ministerin Köstinger den Ibiza-Ausschuss als Löwingerbühne bezeichnet, muss man sie korrigieren. Alle Parteien sind Protagonisten eines politischen Tiefpunkts. Bei Löwinger konnte man wenigstens noch lachen.

„Eine angeschlagene ÖVP wird zu viel mehr Zugeständnissen bereit sein (müssen) als bisher.“

Die ÖVP: Abgesehen von realitätsfernen Versprechen („Licht am Ende des Tunnels“) und nicht eingehaltenen Ankündigungen beim Impf-Tempo, ohne jede politische Vision, mit ihrem SMS-Desaster und Attacken gegen die Justiz beschäftigt. Die Grünen: Haben das Impf-Fiasko und eine überbordende Bürokratie zu verantworten, da sie ressortzuständig sind. SPÖ und FPÖ sind vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Wenn SPÖ-Chefin Rendi-Wagner, in der ZiB 2 auf den kommenden Wahl-Parteitag angesprochen, die Latte für ihre Wahl mit 71 Prozent beziffert, zeugt das von mangelndem Selbstbewusstsein ersten Ranges und von Führungsschwäche. Da sind Parteichefs schon bei besseren Ergebnissen zurückgetreten. Die FPÖ ist vorsichtshalber gegen alles und jede vernünftige Corona-Maßnahme und bietet auf offener Bühne einen Streit. Wenn Klubobmann Kickl die völlig unrealistische Variante einer Koalition aller Parteien außerhalb der ÖVP ventiliert, wird er prompt von Parteiobmann Hofer zurückgepfiffen („Wenn die Katz´ aus dem Haus ist, haben die Mäuse Kirtag“). Kickl antwortet mit Tom und Jerry, und das sei für die Katze wenig schmeichelhaft. Löwinger in Reinkultur. Schließlich die Neos, die lieber zum Kadi rennen als durch Ideen zur Krisenbewältigung zu glänzen.

Stellen sich die Parteien eigentlich die Frage, ob sie denn nicht an der Interessenslage der Bevölkerung vorbei agieren? Ob die Leute denn nicht das Ausschuss-Hickhack und personelle Intrigen satthaben? Vielleicht wollen sie lieber wissen, wie denn der Sommer wird, wie sie wieder Jobs bekommen, wie man die Klimakrise bewältigt, wie die corona-bedingten Defizite der Schüler behoben werden? Die von Medien immer häufiger lancierten Neuwahl-Gerüchte gehören jedenfalls nicht dazu. Eigentlich haben wir in dieser Krise Neuwahlen so nötig wie einen Kropf. Der Politologe Peter Filzmaier rechnet vor: Nur mehr knapp ein Drittel vertraut den Parteien, nur mehr 38 Prozent vertrauen der Regierung. Laut APA/OGM-Vertrauensindex haben zu Jahresbeginn alle (!) Politiker aus Regierung oder Opposition ein Minus aufgewiesen. Kurz hat deutlich schlechtere Vertrauenswerte als noch im vergangenen Sommer, aber Kogler, Rendi-Wagner, Hofer und Meinl-Reisinger sind noch schlechter dran.

Möglicherweise schlägt jetzt die Stunde der Grünen. Wenn sie, der Not gehorchend, der Regierung die Stange halten, gegen die Meinung der Basis und mancher Altvorderer möglicherweise, und so Neuwahlen verhindern (die sie selbst überhaupt nicht brauchen können), können sie plötzlich einige Ziele des Regierungsprogramms durchbringen. Von einer ökosozialen Steuerreform bis zu Mehrwegflaschen und Plastikpfand. Da kann die Wirtschaftskammer noch so reflexartig aufschreien. Eine angeschlagene ÖVP wird zu viel mehr Zugeständnissen bereit sein (müssen) als bisher. Vorausgesetzt, Kurz kann über seinen Schatten springen und den Grünen, wie man bei uns sagt, „s` Mul gunna“. Wie heißt es bei Goethe weiter: „Ein leidig Lied!“ Unsere Parteien sollten das Leiden beenden, und zwar rasch.

Wolfgang Burtscher, Journalist und ehemaliger ORF-Landes­direktor, lebt in Feldkirch.