Putins Schachspiel
Das Schachspiel ist eine russische Domäne – es gilt in Russland als Volkssport, Schachspieler genießen höchstes Ansehen. Wladimir Putin gilt aber als guter Schachspieler. Das Kalkül hinter dem größten Truppenaufmarsch in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg an den Grenzen der Ukraine lässt sich mit einem gigantischen Schachtournier vergleichen. Hinter der Frage, die seit Wochen die Welt in Atem hält – wird die Invasion stattfinden oder nicht? – steht jene: Wie rational denkt und handelt Putin? Ist das alles nur ein monströser Bluff, ein Erpressungsmanöver, Drohkulisse für künftige Verhandlungen mit dem Westen? Oder wird Putin in den nächsten Tagen oder Wochen losschlagen? Das Zeitfenster wird sich bald schließen: Im März beginnt das Terrain aufzuweichen, und die Manövrierfähigkeit der Panzerfahrzeuge wird drastisch abnehmen – ebenso die Moral der Truppe nach der langen Wartezeit.
Putin hat sich in eine Situation hineinmanövriert, die ihn zum Handeln zwingt. Oder zumindest einen entsprechenden Propagandasieg gegen den Westen erfordert. Invasionsängste und Bedrohungsszenarien sind aus russischer Sicht keineswegs Hirngespinste. Napoleon marschierte mit seiner „Grande Armée“ im September 1812 in Moskau ein, Hitler erteilte 1941 die Weisung 34, Moskau einzunehmen und belagerte bis 1944 Leningrad. Dieses Trauma ist tief in der russischen Psyche verankert. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Sowjetrussland mit dem Warschauer Pakt und den Sowjetrepubliken einen immensen „Cordon Sanitaire“ errichtet. Dieser zerbröckelte nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Nato bestand 1990 aus 19 Mitgliedstaaten, heute sind es 30, Schweden und Finnland erwägen den Beitritt, auch Georgien und eben die Ukraine möchten sich unter den Schutzschild der Nato stellen. Aus Moskauer Sicht hat sich die politische Landkarte Europas in kurzer Zeit bedrohlich gewandelt. Mit Propagandamythen hat Putin leichtes Spiel.
Er nutzt die Gunst der Stunde: Das Ausscheiden Merkels und das Ausscheren der Brexit-Briten hinterließen in Europa ein politisches Vakuum, die Spaltung Amerikas und das Afghanistan-Debakel haben den Westen geschwächt. Putin stellt dem Westen unerfüllbare Forderungen, den Ausbau der Nato zu stoppen. Dass der Verteidigungspakt Nato Russland nicht angreifen wird, weiß Putin sehr genau. Doch die Demokratisierung der Ukraine, dieses großen orthodoxen Nachbarlandes, das sich zunehmend dem Westen zuwendet, könnte der eigenen Bevölkerung ein gefährliches Exempel vor Augen führen. Der Alleinherrscher Putin, der obsessiv um seine persönliche Sicherheit besorgt ist und Attentatspsychosen hegt, will als starker Mann auftreten. Die Krim-Invasion hat sein Prestige im Volk vergrößert – auch aus der Ukraine-Krise will er gestärkt hervorgehen.
Charles E.
Ritterband
charles.ritterband@vn.at
Dr. Charles E. Ritterband ist Journalist und Autor sowie langjähriger Auslandskorrespondent der Neuen Zürcher Zeitung (seit 2001 in Wien).